Kommentar: USA wollen Open-Skies-Vertrag beenden – seltsame Widersprüche

Senator Tom Cotton (links) neben dem 2019 gefeuerten Nationalen Sicherheitsberater John Bolton, bei der Conservative Political Action Conference (CPAC) 2015 in Maryland. Bild von Gage Skidmore, Flickr.

Der am 21. Mai angekündigte Ausstieg der Trump-Administration aus dem Open-Skies-Vertrag kam für Beobachter der Lage nicht völlig überraschend. Der US-Präsident gab damit dem Druck politischer Hardliner nach, die die Beendigung dieses Rüstungskontrollabkommens schon seit geraumer Zeit fordern. Zudem ist dies ein weiterer absehbarer Schritt in Richtung geopolitische Konfrontation mit der Russischen Föderation gewesen, der sich nahtlos in die bisherige Chronologie einfügt: von der Kündigung des Vertrags über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) im Jahr 2002 unter George W. Bush, über die Beendigung des Nuklearabkommens mit dem Iran (JCPOA), bis zum Ausstieg aus dem Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrags (INF-Vertrag) im August 2019. Der von 34 Staaten ratifizierte und 2002 in Kraft getretene Vertrag über den offenen Himmel, der Open-Skies-Treaty (OST), erlaubt den teilnehmenden Staaten Beobachtungsflüge über dem Territorium der Vertragspartner und stellte somit ein vertrauensbildendes Instrument dar. Auch der Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen (New-START-Vertrag) wird Anfang 2021 auslaufen, sollte es dazu keine neuen Verhandlungen zwischen den USA und Russland geben. Russlands stellvertretender Außenminister Sergej Rjabkov nannte den Ausstieg aus dem OST „eine weitere Etappe der Demontage der internationalen Sicherheit“. Die NATO, wenngleich sie angeblich am Vertrag festhalten will, hatte bereits seit ihrem Gipfeltreffen in Wales 2014 Russland regelmäßig mit Vorwürfen über angebliche Vertragsverletzungen unter Druck gesetzt und damit die unilaterale Aufkündigung seitens der USA implizit ermutigt.

Grenell gegen Maas

Bei einem Briefing des US-Außenministeriums behauptete Christopher Ford, stellvertretender Staatssekretär für internationale Sicherheit und Nichtverbreitung, dass „Russland eindeutig nicht mehr in der Weise zur kooperativen Sicherheit verpflichtet ist, wie man es sich erhofft hatte“. Speziell in Bezug auf den OST behauptete Ford, dass „Russland es von Anfang an versäumt hat, Luftraum- und Flugplatzinformationen ordnungsgemäß zur Verfügung zu stellen, was mit den Vertragsverpflichtungen unvereinbar ist“. Die US-Regierung behauptete sogar, dass Russland OST-Bilder benutzt, um mit präzisionsgelenkten Raketen Angriffe auf zivile Infrastruktur zu planen. Auf Druck weigerte sich Ford jedoch, Beweise dafür vorzulegen. In Rjabkovs Replik darauf hieß es: „Ihre Anschuldigungen gegen Russland, den Vertrag nicht eingehalten zu haben, dienten als Vorwand, das Dokument zu kündigen. Zumal niemand in Washington jemals Fakten zur Untermauerung ihrer Behauptungen vorgelegt hat.“ Der deutsche Außenminister Heiko Maas forderte indessen die USA auf, ihren Rückzug zu überdenken. Er erwähnte auch, dass Großbritannien, Frankreich und Polen den USA mehrfach erklärt hätten, dass Bedenken über die russische Seite einen Rückzug aus dem Abkommen nicht rechtfertigen würden. Maas bedauere die Austrittsankündigung, da der Vertrag zu „Sicherheit und Frieden in fast der gesamten nördlichen Hemisphäre“ beitrüge. Deshalb werde er alles tun, um den Vertrag zu bewahren. Der scheidende US-Botschafter Richard Grenell, der übergangsweise als Koordinator für die amerikanischen Geheimdienste fungiert, schlug verbal entsprechend schonungslos auf den deutschen Außenminister ein. „Anstatt sich über die Reaktion der USA zu beschweren, hätte Heiko Maas in den letzten Jahren den Druck auf Russland erhöhen müssen, damit es seinen Verpflichtungen nachkommt“, so Grenell nach einem Bericht von Sputnik International.

Einfach zu teuer?

Ultra-konservative US-Senatoren der Republikanischen Partei, wie Tom Cotton, Ted Cruz und Richard Burr, gehören zu den langjährig aktiven Kreuzrittern gegen sämtliche Sicherheits- und Rüstungsabkommen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland. Erst im März dieses Jahres verfassten sie einen Brief an Präsident Trump, in welchem sie ihm dringend den Ausstieg aus dem Open-Skies-Vertrag nahelegten. Darin bezichtigen sie Russland, die im Rahmen des Vertrags erlaubten Überflugsrechte für Spionage gegen den US-Präsidenten selbst genutzt zu haben, als nämlich im Sommer 2017 ein russisches Flugzeug in 1200 Metern Höhe nahe an Trumps Residenz in New Jersey herangekommen sein soll. Der Brief zitiert viele honorige Stimmen der US-Sicherheitspolitik, wie den ehemaligen Vorsitzenden des militärischen Nachrichtendienstes, Generalleutnant Vincent Stewart, den ehemaligen Chef des Strategischen Commandos, Admiral Cecil Haney, und auch den amtierenden Verteidigungsminister Mark Esper, die allesamt mit kurzen Zitaten dem Hauptargument der Senatoren zusätzliches Gewicht verleihen sollten. Allerdings hat Esper laut diesem Brief noch etwas anderes gesagt, nämlich, dass er die beiden aus den 1950er Jahren stammenden Aufklärungsflugzeuge, die für die Open-Skies Missionen der Amerikaner eingesetzt werden, nicht mehr modernisieren werde, da die Kosten in die hunderte Millionen gehen könnten. Wörtlich heißt es in dem Schreiben an Trump: „Diese Kosten stellen eine unnötige Last für unser Militärbudget und den Amerikanischen Steuerzahler dar, und würden den Rückzug von dem Vertrag allein schon rechtfertigen.“ In einem Meinungsartikel, der am 10. Dezember 2019 in der Washington Post abgedruckt worden ist, schrieb Senator Cotton bereits: „Die beiden speziell für Open-Skies Flüge verwendeten modifizierten US-Flugzeuge sind alt und teuer in der Unterhaltung. Die Flugzeuge, ein Ableger des KC-135, das zuerst in den 1950er Jahren eingesetzt worden ist, sind älter als der Vertrag und sind bereits schon mitten im Flug ausgefallen. Die Modernisierung dieser Maschinen würde beinahe eine viertel Milliarde Dollar kosten.“ Sind es also eigentlich finanzielle Gründe, die die Amerikaner zum Ausstieg aus dem OST drängen?

Oder obsolete Technik?

Die Auflösung der Bilder, die unter dem OST erlaubt sind, beträgt 30 cm pro Pixel. Senator Cotton spricht in dem erwähnten Washington Post Artikel offen aus, dass jeder sich auf dem freien Markt, zum Beispiel beim Datenkonzern Google, mindestes gleichwertige Bildinformationen kaufen kann. Zudem macht Cotton kein Geheimnis daraus, dass die USA längst über andere Aufklärungskapazitäten verfügen, zu denen auch „Satelliten, die Bilder kurzfristig überall auf dem Planeten aufnehmen können – einschließlich Kaliningrad und die Russisch-Georgische Grenze“ gehörten. „Open-Skies Überflüge stellen somit für uns eine veraltete technische Fähigkeit dar, aber eine sehr wichtige Ergänzung zu Russlands kleinerem Satellitennetzwerk mit seinen geringeren Möglichkeiten.“ Das Argument sollte man sich erneut vor Augen führen: weil ich eine bessere Technik entwickelt habe und damit die alte obsolet und nicht mehr finanziell tragfähig geworden ist, erhält mein Vertragspartner nun Vorteile aus der Vereinbarung, die ich ihm nicht gestatten will. Der Verdacht kommt auf, alles andere seien nur argumentative Nebelkerzen. Bis heute hat kein hochrangiger Vertreter der Amerikanischen Geheimdienste und des außenpolitischen Establishments auch nur einen einzigen Beweis für die seit Jahren vorgetragenen Vorwürfe vorgebracht, Russland habe den OST verletzt. Der Vertrag „unterläuft die Amerikanischen Sicherheitsinteressen,“ heißt es schließlich lapidar in der von Cotton, Cruz und Burr verfassten Senatsresolution vom Oktober 2019, und diene nur „Russischen Interessen“.

Ungewisser Ausblick

Auf der Webseite des US-Außenministeriums findet man jedoch etwas anders lautende Schlüssel-Informationen. Dort macht man auf die Tatsache aufmerksam, seit Inkrafttreten des Vertrags im Jahr 2002 seien “die Vereinigten Staaten jährlich fast dreimal so viele Flüge über Russland geflogen, wie Russland über die Vereinigten Staaten fliegt.“ Die Flugpläne von 2002 – 2016 würden 196 Anträge der Vereinigten Staaten über Russland und 71 Russlands über die Vereinigten Staaten ausweisen. Außerdem könnten die USA auch „Kopien des Bildmaterials von Flügen anderer Vertragsstaaten über Russland anfordern.“ Im Zeitraum 2002 – 2016 hätten über 500 solcher Flüge anderer Vertragsstaaten über Russland stattgefunden. Wieso also Russland allein den größeren Vorteil aus dem Vertrag ziehen soll, leuchtet unter diesen Umständen nicht wirklich ein. Derweil haben übrigens die Demokraten im US-Kongress bereits Widerstand gegen den OST-Austritt angekündigt. Diverse Ausschussvorsitzende wandten sich in einem Brief an Verteidigungsminister Esper und Außenminister Pompeo. Darin heißt es, die Ankündigung der Vertragsbeendigung verletze Vorschriften, nach denen der Kongress 120 Tage vorher in Kenntnis gesetzt werden müsse. Man verlange eine Rechtfertigung für diese „absichtlich illegale Aktion“. Ob in sechs Monaten der Open-Skies-Vertrag wirklich ohne weitere Verhandlungsversuche zwischen den USA und der Russischen Föderation ausläuft, werden Sicherheitsexperten weltweit sicherlich genau beobachten. Doch die Herausforderungen scheinen sich auch in Zukunft eher zu häufen als weniger zu werden. Nicht nur der erwähnte NewSTART-Vertrag läuft bereits im Februar 2021 ab, auch der Kernwaffenteststopp-Vertrag (CTBT) – erodiert vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Nach 1945 wurden rund 2000 Nuklearsprengköpfe getestet, bis diese Praxis 1992 mit wenigen Ausnahmen beendet wurde. Nun gaben vor rund einer Woche US-Medien bekannt, dass es Diskussionen in Kreisen des US-Militärs und unter Sicherheitsbeamten gäbe, Atomtests wieder aufzunehmen. Und, wer hätte das geahnt, die Legitimierung dafür ist erneut, dass Russland, und diesmal auch China, beschuldigt werden, das CTBT-Abkommen sowieso unterlaufen zu haben, indem sie, unbewiesen, heimlich unterirdische Test durchführen würden. Natürlich ist auch in diesem Falle wieder Senator Cotton der ultra-konservative Bannerträger dieser Initiative, den CTBT ad acta zu legen, denn, so schrieb Cotton bereits 2016 bei Fox News, wenn sich die USA an dieses Übereinkommen hielten, würde es – der Leser wird es bereits erraten haben – „die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten gefährden.“ Erfordert es also eine Welt ohne jegliche Sicherheitsverträge, Rüstungsbegrenzungsabkommen und vertrauensbilde Maßnahmen, damit sich die USA am Ende von niemandem bedroht fühlen? Das wäre nicht nur absurd, sondern brandgefährlich.

Kommentar: Poroschenko-Ermittlungen zielen auf Joe Biden

Der ehemalige Vizepräsident Joe Biden (rechts im Bild) mit dem damaligen Ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko am 20. Januar 2016 vor einem bilateralen Treffen in Davos. Quelle: US-Außenministerium / Public Domain

Gegen den ehemaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko hat der amtierende ukrainische Präsident Selenskyj mithilfe der Kiewer Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet. Es geht um möglichen Hochverrat und Machtmissbrauch. Ausgelöst wurde die Entscheidung durch Veröffentlichungen des Rada-Abgeordneten Andrij Derkatsch von Ausschnitten eines Telefongesprächs zwischen Poroschenko und dem damaligen US-Vizepräsidenten und wahrscheinlichen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei für die kommenden US-Wahlen, Joe Biden. Die Aufnahmen, die aus den Jahren 2015-16 stammen, sollen belegen, dass Biden, der zu jener Zeit der höchstrangige Vertreter der Obama-Regierung mit Zuständigkeit für die Ukraine gewesen ist, ein Quid-pro-quo mit Poroschenko abgesprochen hatte. Biden habe dabei die Entlassung des damaligen Generalstaatsanwalts der Ukraine, Viktor Schokin, gefordert, und zwar als Bedingung für die Gewährung von einer Milliarde US-Dollar Finanzhilfe für die ukrainische Staatskasse. Poroschenko gewährte Biden anschließend die Bitte, feuerte Schokin, und bekam schließlich die Milliarde. Grund soll gewesen sein, dass Schokin Anti-Korruptions-Ermittlungen gegen den Vorstandschef des Erdgaskonzerns Burisma verfolgt hatte. Mit im Vorstand saß Joe Bidens Sohn, Hunter Biden.

Korruptionsverdacht erhärtet

50,000-100,000 US-Dollar Monatsgehalt strich Hunter Biden, der übrigens zu keiner Zeit über irgendwelche Kenntnisse aus der Erdgas-Wirtschaft verfügt hat, als Burisma-Vorstandsmitglied ein. Auch er war mit Sicherheit ins Visier der Fahnder geraten. Vater Biden hat seinen Sohn gegen mögliche strafrechtliche Ermittlungen schützen wollen, und tatsächlich stellte der Nachfolger Schokins, Jurij Luzenko, die Untersuchungen ein. Die nun veröffentlichten Tonaufnahmen untermauern nun die Korruptionsvorwürfe gegen die Bidens. Bislang wurde diese These in erster Linie von US-Präsident Donald Trump, seinem Anwalt Rudi Giuliani und weiteren vorwiegend republikanischen Unterstützern des US-Präsidenten ins Feld geführt, einerseits, um sich in der Impeachment-Auseinandersetzung gegen seine Demokratischen Opponenten zu wehren und  gleichzeitig mit Joe Biden seinen potenziellen Gegenkandidaten im Präsidentschaftswahlkampf zu schwächen. Doch nun weitet sich die Angelegenheit möglicherweise großflächig aus, mit unabsehbaren rechtlichen Folgen für Teile des Obama-Kabinetts, den kommenden Wahlausgang in den USA und die Amerikanisch-Russischen Beziehungen.

Experte Asafow: „Es soll Biden treffen“

Der russische Politikwissenschaftler Alexander Asafow bemerkte in einem vor kurzem geäußerten Kommentar, dass „die Veröffentlichung dieses Schmutzes weder Poroschenko noch der Ukraine als Staat schaden wollte, sondern direkt Biden.“ Trumps Anwalt Giuliani hatte bereits seit 2019 im Zuge persönlicher Recherchereisen in die Ukraine das Material, das nun der Abgeordnete Derkatsch an die Öffentlichkeit trug, durch investigative Journalisten und Whistleblower erhalten und deren Veröffentlichung auch in zahlreichen Fernsehinterviews mit amerikanischen Sendern angekündigt. Nach Asafows Einschätzung sind die Tonbänder glaubwürdig und der Kontext korrekt dargestellt. Sie zeigten, dass „die Ukraine unter strenger Kontrolle der USA“ gestanden habe, „und Biden direkt an diesen Prozessen beteiligt“ gewesen sei. Das Material habe lange in der Ukraine geschlummert und sei nun aktiviert worden, um „dem amerikanischen Wähler noch einmal zu zeigen, dass Biden eine aktive Rolle in der Regierung der Ukraine spielte und noch spielt, und dass daher alle Behauptungen, von denen Giuliani gesprochen hat, wahr sind. Man wird dies im Wahlkampf von Trump verwenden.“ Tatsächlich soll Trump hochrangigen Parteimitgliedern längst eingeschärft haben, die Machenschaften der Bidens in der Ukraine zu einer prominenten Sache zu machen.

Fraktionskämpfe in Washington

Dazu passt, dass der republikanische Senator Ron Johnson, Vorsitzender des mächtigen Ausschusses für Nationale Sicherheit und Regierungsangelegenheiten, nun eine strafbewehrte Vorladung, ein Subpoena, an Burisma-Lobbyist Andrij Telizhenko beschließen ließ. Johnson versuchte seit fünf Monaten an Dokumente zu gelangen, die sich in Besitz von Telizhenkos Unternehmen Blue Star Strategies befinden, und die die Arbeit Hunter Bidens bei Burisma beleuchten sollen. Noch vor den Wahlen im November will Johnson einen Bericht über Hunter Bidens Verwicklungen mit dem Ukrainischen Erdgas-Konzern vorlegen. Die Demokraten im Ausschuss votierten nicht nur gegen das Subpoena, sondern warfen Johnson vor, „sich unwissentlich zur Spielfigur in einer Russischen Desinformationskampagne“ gemacht zu haben. Der Fraktionsvorsitzende der Demokraten, Senator Chuck Schumer, sprach sogar davon, Republikaner benutzten „Russische Propaganda, um zu versuchen, einen politischen Gegner zu schaden.“ Die Bezeichnung „Russische Propaganda“ stellt im politischen Washington, trotz des Scheiterns des gegen Trump lancierten „Russiagate“, nach wie vor die Bazooka unter den politischen Angriffswaffen dar. Westliche Medien habe bereits begonnen, die Sache massiv herunterzuspielen. So behauptete das Magazin Spiegel Online, dass die Aufnahmen „keinen einzigen Beleg für Derkatschs Behauptung“ enthielten. Gleichzeitig gibt man zu, dass die USA tief in die Kiewer Politik eingriff, Parlamentsstimmen kaufte und ukrainische Oligarchen wie den Milliardär Ihor Kolomojskyi begünstigte. Auch die Europäische Union habe die Entfernung Schokins aus dem Amt unterstützt. Die Ermittlungen und Enthüllungen werden sicherlich weitergehen und letztlich auch die Frage aufwerfen, welche Rolle die Obama-Administration bei den Ereignissen rund um den Regimewechsel 2014 in Kiew gespielt hat. Es handelt sich bei Derkatschs Material also nicht nur um einen simplen Fall von Korruption, sondern um ein Puzzleteil in einer globalen geopolitischen Auseinandersetzung zwischen globalen Großmächten um die Richtung der Ukraine.

Experte der Woche: Leonid Grigorjew

Professor Leonid Grigorjew

Leonid Grigorjew ist Professor an der russischen Hochschule für Wirtschaft (HSE). Zu seinen Hauptforschungsgebieten gehören die globale und russische Wirtschaft, globale Energiewirtschaft, Mittelstand, Kapitalbildung und private Finanzen. Er sagt, dass er „als Ökonom etwas Nützliches für sein Land leisten“ wolle. „Doch den meisten Spaß habe ich an Geschichte.“

Grigorjew ist zudem Chefberater im Analytischen Zentrum für die Regierung der Russischen Föderation, eine 2012 aus dem öffentlichen Sektor outgesourcte und eigenfinanzierten Regierungsabteilung in der Rechtsform einer Denkfabrik. Sie beschäftigt rund 200 feste Angestellte und ist eine der weltweit bekanntesten ihrer Art. Grigorjew erfüllt hier alle möglichen Aufgaben: Mediensprecher, Repräsentant bei internationalen Konferenzen, Forschungschef und Berater des Vizepremiers. Neben der Veröffentlichung zahlreicher Publikationen über die Eurasische Wirtschaftsunion (EAEU), organisiert das Zentrum auch das Akademische BRICS-Forum und ca. 100 weitere Veranstaltungen pro Jahr. „Alles, was man im Westen über BRICS erfährt ist Unsinn, seichte Unterhaltung, Geldverschwendung für die Sponsoren, und hat meistens nichts zu tun mit der Realität,“ so Grigorjews Einschätzung. Anfangs sei man in Europa auch feindselig gegenüber der EAEU gewesen, aber das habe sich nun geändert. „Nun versuchen sie, Brücken aufzubauen.“

Denn Europa ist nach wie vor der wichtigste Bezugspunkt für Russland, sagt Grigorjew. „Wir schauen in den Osten nur aus praktischen Gründen, mental sind wir immer noch 100% in Europa. Bei der HSE haben wir die höchste Zahl von Hochschulabsolventen, etwa 150, im ganzen Land. Alle studieren auf Englisch, und erlernen dann als Zweitsprache noch wahlweise Sprachen wie Chinesisch, Japanisch, Arabisch, Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch.“ Über die HSE-Absolventen kommuniziere Russland mit der ganzen Welt. Der Professor gehört eigentlich zur Nachkriegsgeneration, die eigentlich ihre wohl verdienten Pensionen bekommen müsste, jedoch immer noch arbeitet, und zwar aus drei Gründen: „Ersten kann man eine einmal gestartete Rakete nicht stoppen. Wir würden sterben, wenn wir aufhörten, zu arbeiten. Wir tun es also, um unser persönliches physisches Überleben zu sichern.“ Ein weiterer Grund ist der durch den gesellschaftlichen Einbruch in den 1990er Jahren entstandene historische Spalt. „Deshalb habe ich fast keine Mitarbeiter über 40. Es klafft eine Lücke von rund 20 Jahren. Einige leitende Angestellte, zum Beispiel der stellvertretende Dekan für Wissenschaften, hat mit 31 seinen Posten angetreten, den man normalerweise an jemanden in seinen 50ern geben würde. Aber In fünf Jahren wird die Lücke geschlossen werden. Dann kann ich endlich aufhören.“

Zitate:

US-Russische Sicherheitszusammenarbeit

„Trump ist ein Entertainer, der sich selbst unterhält. Wir können ihn nicht ausstehen. Unsere Beziehungen gehen bergab im Bereich auswärtige und diplomatische Angelegeneheiten, und auch bei der Wissenschaftskooperation. Was gut ist, ist, dass wir uns zumindest nirgendwo militärisch bekämpfen. Und wir haben eine funktionierende Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen. Russland-NATO Beziehungen stehen auf einem schmalem Grad und sind streng auf Sicherheitsfragen beschränkt, nichts anderes. Wir meiden Konflikte. Wir haben zum Beispiel bei der Verhinderung eines Terroranschlags in St. Petersburg zusammengearbeitet. Es gibt auch Zusammenarbeit bei der Sicherheit in Syrien. Aber es gibt auch viele Unterschiede. Die offizielle Doktrin der USA lautet, dass wir eine Bedrohung für sie wären. Sie wollen uns eindämmen. Was wichtig ist: in unserer Militärdoktrin haben wir nichts ähnliches, denn darin geht es schlicht um unsere Landesverteidigung, ganz offiziell und praktisch. Es hat keine Ideologie so wie in den Sowjetzeit. Wir haben gar nicht die personelle Stärke, dass wir uns außerhalb unserer eigenen Interessen bewegen und irgendwelche offensive Positionen gegenüber der Welt einnehmen könnten. Das sage ich als Ökonom und als Bürger meines Landes.“

Sanktionen und Kriegsgeschichte

„Wir haben einen guten Witz, der noch aus der Sowjetzeit stammt: ein Pessimist ist ein gut informierter Optimist, und ein Optimist ist ein gut ausgebildeter Pessimist. Wir Russen sind sehr vorsichtig im Augenblick. Vielleicht wird sich irgendwo etwas positives bewegen, wenn man bewusst nach einem Flecken blauen Himmel sucht zwischen den Regenwolken. Man kann uns nicht leicht zum Optimismus bewegen, aber jede Gelegenheit ist willkommen. Nun wurde Nord Stream 2 durch Sanktionen gestoppt und man rüstet jetzt ein Schiff um, das in Sachalin Pipelines verlegt hat. Andererseits sind Sanktionen ein versteckter Segen. Die Sanktionen für technische Güter haben die russischen Energie-Forschungsinstitute wiederbelebt. Wenn keine Gefahr herrscht, tendieren Russen dazu, sehr faul zu werden. Sobald die Gefahr wieder auftaucht, wachen sie sofort auf und fangen an, etwas zu tun. Ich sage Ihnen, Deutsche sind meist politisch korrekt, ganz im Gegenteil zu den Russen, die normalerweise nicht politisch korrekt sind. Konkurrenzkämpfe in der Industrie waren auch der eigentliche Grund für den Ersten Weltkrieg. Es gab direkte Verhandlungen zwischen dem deutschen Kaiser Wilhelm und Britischen und Französischen Regierungsvertretern. Deutschland wurde zum Exporteur günstiger und qualitativ guter Manufakturgüter. Die Briten und Franzosen wollten verhindern, dass diese in ihren Kolonien verkauft werden konnten. Das wurde zum Problem. Amerika produzierte, Russland kaufte und wuchs vor dem Krieg schneller als Deutschland, wenn auch von einer niedrigeren Basis aus, aber sehr schnell. Das einzige Großprojekt ohne Korruption war die transsibirische Eisenbahn. Pyotr Durnovo warnte in seinem bekannten Memorandum dann, dass der Konflikt ein Britisches Problem sei und Russland sich nicht in den Krieg hineinziehen lassen solle. Es macht großen Spaß, es zu lesen. Das war Monate vor Kriegsausbruch. 30 Seiten, sehr eloquent und ausführlich.“