Interview mit Hans Modrow (Teil 3)

Hans Modrow in seinem Büro (Foto: Stephan Ossenkopp)

Zur Person: Hans Modrow (92) war zur Zeit der Wende und friedlichen Revolution vom 13. November 1989 bis 12. April 1990 der Vorsitzende des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik und somit Regierungschef. Später war er Abgeordneter im Bundestag und im Europaparlament. Dr. Modrow ist Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke.

Dies ist der dritte und letzte Teil des Interviews

Teil 3 – Putins P5-Vorschlag, BRICS, SCO und die Neue Seidenstraße

Im westlichen öffentlichen Diskurs werden Institutionen wie die BRICS, die Shanghai Cooperation Organisation, Eurasische Wirtschaftsunion nahezu ausgeblendet. Was sind die Gründe und Konsequenzen dieser Haltung des Westens?

Zunächst gehe ich davon aus, dass man, wenn man auch nochmal Herrn Gorbatschow mit beachtet, allein mit guten Worten in der Politik nichts erreicht. Politik fordert den Blick auf Interessen. Aus dieser Interessenssituation heraus sind solche Institutionen entstanden, die vor allem, zunächst vordergründig, den Erdteil Asien-Europa oder Europa-Asien im Blick haben. Wir vergessen mitunter, dass es ja auch ähnliche Institutionen gibt oder gab, weniger stark oder beachtet, in Lateinamerika und auch in Afrika. Für das Geschehen der Weltpolitik spielen aber – das ist nun mal der Umstand der Dinge – der Shanghaier Kreis, die Eurasische Union und die BRICS eine größere Rolle, weil hier Gegenseitigkeit herrscht, die auch nach 1990/91 in der Welt ja stark verblieben ist. Schaut man die Eurasische Organisation ist ja auf diesem Gebiet vor allem Kasachstan aktiv. Nasarbajew als Präsident Kasachstans sah sich als eine Drehscheibe – auch geostrategisch – zwischen China, Russland und dem anderen Teil des Kontinents, Europa. Auf seine Initiative ist ja auch ein eurasisches Büro in Berlin entstanden, als er noch Präsident war. Eine Schwäche dieser Eurasischen Union entstand vor allem mit den Veränderungen, die sich in der Ukraine vollzogen, denn das ist ein wichtiger Flügel, eine Strecke, die aus Europa ja bis in den eurasischen, in diesem Falle bis an die asiatischen Unionsrepubliken reicht. Damit verlor eigentlich die Eurasische Union etwas von ihrer geostrategischen Bedeutung, was nicht heißt, dass sie aufhörte. Im Gegenteil, hier wird noch einmal sehr spürbar, dass die chinesische Seite diesen Ansatz mit ihrem Konzept der Neuen Seidenstraße zu stärken bemüht war.

Ich bin vor sechs Jahren in Kasachstan gewesen und habe dort erlebt, wie dort ganz intensiv auf der Straße gearbeitet wird, neue Straßen gebaut werden, um diese Neue Seidenstraße auch materiell zu sichern. Dieser Teil, glaube ich, hat seine Bedeutung wiederbekommen durch diese Konzeption. Es ist ja auch nicht zu übersehen, dass daher auch in Nursultan – wie ja heute die Hauptstadt Kasachstans heißt – auch nicht zuletzt auf Initiative des Präsidenten Chinas vor zwei Jahren mal eine Beratung zur Seidenstraße stattfand. Ich glaube, man darf nicht unterschätzen – auch wenn es in den Medien und im Allgemeinen etwas stiller geworden ist – dass hier eine strategische Konzeption nicht aufgegeben worden ist. Die nächsten Jahre, und vor allem die Wirkung nach der Corona-Pandemie, werden diesen Teil der Institution besonders stark mit im Blick haben, weil es darum gehen wird, die Ketten der wirtschaftlichen Zusammenhänge in dieser globalen Wirtschaftswelt nicht zerreißen zu lassen. Für die Volksrepublik China spielt dieser Teil eine sehr große Rolle, und er geht zurück auf Konzeptionsüberlegungen, die auch etwas mit dem Shanghaier Kreis zu tun haben. Es war Medwedjew, als er der Präsident Russlands war, der mal den Gedanken aussprach: eigentlich müsste von Wladiwostok bis Portugal sozusagen eine Gemeinschaft entstehen, die zu mehr Sicherheit und zur Möglichkeit der Berechenbarkeit und mehr Vertrauensbildung führt. In dieser Struktur hat natürlich der Shanghaier Kreis ein besonderes Gewicht. Ich denke, man muss die Institutionen, so wie sie entstanden sind, immer wieder neu in ihren Interessenssituationen betrachten, je nachdem wie die jeweiligen Veränderungen im aktuellen Geschehen sind. Da wird auch der Shanghaier Kreis nach dieser Pandemie ein neues Gewicht bekommen.

Was die BRICS betrifft, so wird nach meinem Verständnis im Moment sehr darum gerungen, dass Veränderungen, die besonders in Brasilien und in Südafrika entstanden sind, diesen BRICS-Kreis und diese Institution nicht zerfallen lassen. Solange es die BRICS gibt, gab es eine Situation, dass Brasilien mit Lula – und später mit Frau Rousseff als Präsidentin – eine linksgeführte Regierung besaß, die in diese Struktur auch gut eine lateinamerikanische Institutionswirkung hineintrug. Das ist heute mit einer fast faschistischen Militärstruktur in Brasilien schwieriger, aber selbst der gegenwärtige Präsident hat keine Austritts- oder Distanzierungserklärung zur BRICS abgegeben. Auch für ihn stellt sich wieder die Frage: auch wenn es mit China nicht unbedingt Übereinstimmung gibt, ist es dennoch für die Balancen, nach denen man selber strebt, für den eigenen Kontinent nicht falsch, auch hier mit einer solchen Institution ein gewisses Mit-Dabeisein zu behalten. Bei Südafrika wird sich zeigen, wie die weitere Entwicklung geht, weil die Stärken, die mit Mandela und nachfolgenden Jahrzehnten auch verbunden waren, ja auch dort in eine bestimmte Situation gekommen sind. Aber auch von dort gibt es keine Zurückhaltung. Indien, China und Russland haben hier gemeinsame Interessen ihrer Stärke und der Umsetzung ihrer Kraft, die sie besitzen, in Interessen, die sie miteinander auch auf der Ebene von Vertrauensbildung sehen. In dem Zusammenhang bleibt eben, dass immer wieder die Frage NATO/USA das eine Feld von Kräftestrukturen ist, und das andere die BRICS mit ihren Zusammenhängen. Ich glaube, es wäre gut, wir wären alle in dieser Welt in einer Situation nach der Corona-Krise, wo es Chancen gibt, aus Balancen heraus auch Entwicklungen anzustreben, die nicht Krisen verschärfen, sondern die Möglichkeit schaffen, dass aus Balancen und Interessenssituationen heraus wieder Vertrauen für Handel und das Miteinanderleben auf dieser Erde entstehen.

Präsident Putin warnte jüngst in einem langen Artikel und in mehreren Reden, man dürfe nicht die Geschichte verzerren und behaupten, die Sowjetunion trage ebenso viel Mitschuld am Zweiten Weltkrieg wie Nazi-Deutschland. Er nutzte reichlich neu ausgewertetes Archivmaterial für seine Beweisführung. Wie war Ihre Reaktion auf den Artikel?

Einen Teil meiner politischen Bildung habe ich in der Sowjetunion erworben. Durch die vier Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, mit dem Besuch einer Antifa-Schule, und mit vielen politischen Begegnungen, besonders in Moskau und Leningrad, verfolge ich natürlich solche Ausführungen und Bewertungen der Geschichte mit großem persönlichem Engagement und Aufmerksamkeit. Wo kritische Punkte zu betrachten sind, versucht nun Putin in eine Tiefe zu gehen, die für die gegenwärtige internationale Situation, glaube ich, von sehr großer Bedeutung ist. Er geht zurück auf die Situation in Polen und auch insbesondere auf die Münchener Konferenz, in der ja das Problem der Tschechischen Republik vor allem enthalten ist. Was er belegt, ist, was zu diesem großen Spiel führt und was die Ursachen für den Zweiten Weltkrieg in sich birgt. Er belegt und zeigt vor allem, wie, bevor es eine sozialistische Staatengemeinschaft, von der wir ja gesprochen haben nach 1945, vor der Teilung Europas in Wirklichkeit bereits ein geteiltes Europa gegen die Sowjetunion gab. Nicht erst 1941 mit dem Überfall der Faschisten beginnt dieser Schritt, sondern in München sind Hitler und Mussolini dabei. Wir haben ja eine Situation, wo er zeigt, dass Geschichtsbilder geschaffen werden, die gegen Russland gerichtet sind, wo die sowjetische Geschichte dabei eine Verfälschung bekommt.

Seine Distanz zu Stalin bleibt. Er hebt Stalin in keiner Weise mit in seine Betrachtungen als eine Kernfrage der Zeit. Aber zugleich ist klar, dass in dieser Zeit natürlich Stalin an der Spitze der Sowjetunion steht. Die inneren Fragen der 30er Jahre lässt er außen vor und geht in die außenpolitischen Probleme, was ja jetzt vor allem die Frage ist. Hier denke ich ist der Bogen, den Putin spannt, der in die historischen Herausforderungen der Gegenwart geht. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist sozusagen ein neues Format mit den vier Siegermächten entstanden. Er versucht nun die neue Situation aus den historischen Betrachtungen in die Vereinten Nationen zu tragen und sagt: die vier Siegermächte haben ein Vetorecht, und eine fünfte Macht ist hinzugekommen als Weltmacht, die Volksrepublik China. Er geht jetzt einen Schritt, der Möglichkeiten für Friedenserhaltung, für Rüstungskontrolle, für weltwirtschaftliche Entwicklungen eröffnen könnte. Ich glaube, das ist die Chance, die er aus der Geschichte ableitet und versucht zu entwickeln. Er bittet und bettelt nicht, er ist nicht daran interessiert, dass Zugeständnisse von G7 zu G8 betrieben werden, oder dass andere Strukturen entstehen. Er bezieht sich auf eine Struktur, die es gibt und die eigentlich eine Balance bringen könnte. In dieser Weltsituation will er nicht die Frage nach der Gegenüberstellung von Systemen aufbringen, den wir ja eigentlich bis 1990 erlebt haben; sondern er versucht hier – so lese und verstehe ich es – eine neue Brücke zu bauen. Diese Chance glaube ich entsteht aus politischer Vernunft und aus einer politischen, auch geostrategischen, Analyse des Weltgeschehens, 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg; zugleich in einer internationalen Situation mit neuen Spannungen und mit einer weltweiten Krise, die ja nicht nur auf einer Situation beruht, dass uns das Coronavirus trifft, sondern die alle die Aus- und Nachwirkungen mit in das künftige Geschehen einbezieht. Wir wären gut beraten – die Politiker des Geschehens von heute – dass wir diese Möglichkeit, die er anbietet, ausloten und die Brücke nutzen, die hier angeboten wird.

Sie meinen mit dieser „Brücke“ vor allem Putins Vorschlag, dass sich die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates miteinander zu einem Gipfel treffen. Für wie wichtig und aussichtsreich halten Sie diese Initiative? Was gehört für Sie auf die Tagesordnung eines solchen Treffens?

Genau das. Wir erleben ja im Moment, dass die deutsche Seite sehr dabei ist, das Vetorecht der vier Siegermächte anzugreifen. Es ist doch nur ein Hintergrund, in Wirklichkeit ist das die Absicht. Zugleich stehen wir in einer Situation, wo durch das Aufheben dieser Vetorechte die Vereinten Nationen nicht mehr eine Balance gebende Kraft bleiben kann. Sondern dann entstehen Gegensätze, dann entstehen Zusammenhänge, über die man anders nachdenken muss. Die gegenwärtige aktuelle Frage ist für mich dazu nochmal ein Anlass. Natürlich gehört dazu das, was sich in Syrien abspielt, und die Frage, ob man über zwei Übergänge darf, oder ob man über einen Übergang die humanitären Hilfen leisten muss. Human wäre, wenn wir nicht nur zwei, sondern drei oder vier Übergänge hätten. Im Hintergrund meiner Analyse steht eine Frage, die man tunlichst offensichtlich in den Medien der Bundesrepublik sehr außen vor hält. Man soll mal auf den Irak schauen. Was ist denn im Irak? Wenn Länder entstehen, wo keine Regierungen mehr das Land regieren, wo Länder zerfallen und keine Mächte mehr da sind, keine Regierungsmacht. Wer kann denn heute ein Visum ausstellen, wenn es keine Regierung gibt? Wer steht heute im Norden Afrikas und weiß nicht, was man mit Libyen anfangen kann? Wenn wir ein nächstes Land haben, das in dieser Weise zerfällt, welche Interessen schlagen dann durch? Es ist doch immer die Frage, was entscheide ich heute und welches Problem löse ich für morgen? Und diese Frage bleibt für mich dabei vor allem im Hintergrund. Was die Möglichkeiten der Vetomächte angeht, ist hier auch wieder die Frage: stehen starke, nicht nur humane Fragen im Raum, sondern internationale Interessen im Hintergrund. Die stärksten Mächte dieser Welt stehen sich eigentlich indirekt gegenüber. China ist vordergründig überhaupt keine beteiligte Macht im Nahen Osten, aber zugleich eine Weltmacht, die nun wieder Interessen hat, dass Balancen bleiben. Ich denke, dass diese Problematik jetzt gerade mit dieser Frage, die Putin in seinem Vorschlag zum Ausdruck bringt, dass sie eine Chance und Möglichkeit bietet, auch dann auf dieser Basis über sie Frage Syriens und des Nahen Ostens in globaler Form zu diskutieren, wo mit einem Mal dann auch Israel und Palästina in neuer Weise zu betrachten wären. Das ist glaube ich die Fragestellung, um die es geht. Solange es immer nur darum geht, eine Entscheidung aus der Interessenssituation unmittelbar zu treffen, ohne sich die Frage zu stellen, wie es weitergehen kann, entstehen Probleme.

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Autor: Stephan Ossenkopp

Freiberuflicher Redakteur und Politik-Experte, wohnhaft in Berlin.

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