Alexander Neu: Skrupellosigkeit westlicher Machtpolitiker weit vorangeschritten

Alexander Neu (Foto: Irina Neszeri auf Flickr)

Zur Person: Dr. Alexander Soranto Neu ist für die Partei Die Linke Mitglied im Deutschen Bundestag. Seine thematischen Schwerpunkte sind internationale Beziehungen und Friedenspolitik. Dr. Neu studierte Politikwissenschaften in Bonn, wo er 2004 promovierte. 2000 bis 2002 und 2004 war er für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im ehemaligen Jugoslawien tätig. Von 2006 bis 2013 war er Referent für Sicherheitspolitik bei der Fraktion Die Linke.

Dies ist der zweite Teil eines mehrteiligen Interviews. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich mit Ihrer E-Mail Adresse eintragen, um über die kommenden Veröffentlichungen aktuell informiert zu werden.

Stephan Ossenkopp: Russland hat in der allerjüngsten Vergangenheit, wie der Politologe Trenin schrieb, die Sonderbeziehungen, die es zwischen Deutschland und Russland nach der Aussöhnung gegeben hat, an den Nagel gehängt. Jedenfalls ist das ein, wenngleich etwas pessimistischer, Standpunkt. Sehen Sie das auch so, dass die deutsch-russischen Beziehungen, beispielsweise als Folge der Nawalny-Affäre, vollkommen zur Disposition stehen?

Dr. Alexander Neu: Ich habe den Artikel im IPG-Journal gelesen, auf den Sie sich beziehen.[1] Ich sehe nicht, dass die Sonderbeziehungen auch vor dem Fall Nawalny noch existiert haben. Man könnte sagen, dass sie schon 2013 an den Nagel gehängt worden sind, als auf dem Maidan in Kiew deutsche Außenpolitiker – zunächst Westerwelle, dann Steinmeier – und auch andere deutsche Abgeordnete und Politiker herumgelaufen sind, um sich dort massiv in die inneren Angelegenheiten einzumischen, und die dort sogar den Putsch mit unterstützt haben. In dem Moment sind die Sonderbeziehungen mit Moskau ad acta gelegt worden. Auch wenn man sie formal und verbal noch etwas weiter gepflegt hat. Es war ein Affront gegenüber Russland, einen Regime Change gegen Russland zu unterstützen und das in einem Land, dass kulturell und historisch aufs Engste mit Russland verbunden ist. Der geopolitische Zugewinn gegenüber Russland überwiegt ganz eindeutig über das Verlangen nach einer Partnerschaft mit Russland. Nawalny war vielleicht nochmal ein Punkt, an dem man das festmachen kann, aber Nawalny war nicht die Ursache, nicht einmal der Wendepunkt.

Ossenkopp: Es gab selbst in deutschen Mainstream-Medien Anfang 2014 die Erkenntnis, dass auf dem Maidan extremistische Kräfte an die Macht gekommen sind, bzw. dass die Jatsenjuk-Regierung den Rechten Sektor und seine Aufmärsche duldet. Damals warnte Putin: wenn Europa dem Aufkommen des Neofaschismus in der Ukraine blind gegenübersteht, wird es den Neofaschismus in ganz Europa stärken. Denken Sie, dass diese Entwicklung eingetreten ist?

Neu: Zumindest ist sie insofern eingetreten, als dass man im Westen bereit ist, mit Faschisten/Neofaschisten und auch mit Islamisten zu spielen, wie in Syrien, um die dortigen Regime zu schädigen oder zu stürzen. Das ist in Syrien der Fall – dort unterstützt man Islamisten -, das ist in der Ukraine der Fall, dort unterstützt man Faschisten. Dass Nationalisten und Faschisten auf dem Maidan herumturnten und das Zepter in die Hand nahmen, und diese Faschisten ohne Scham ihre faschistischen Symbole unübersehbar – auch für westliche Journalisten und Politiker – offen trugen, zeigt, wie weit doch die Skrupellosigkeit westlicher Macht- und Geopolitiker vorangeschritten ist. Auch die Grünen hätten es sehen können, bzw. ich gehe davon aus, dass sie es gesehen haben. Aber die Grünen setzen andere Prioritäten. Es gibt ein Bild, auf dem Steinmeier in Kiew mit Faschisten fotografiert wird. Während Steinmeier in den Verhandlungen mit Janukowitsch war, versammelten sich in der deutschen Botschaft Faschisten zu Gesprächen. Und auch das Odessa-Massaker am 2. Mai 2014, verübt von ukrainischen Faschisten und Nationalisten, wurde im Westen und auch in der deutschen Politik und Medien nicht sonderlich problematisiert. Nicht einmal einen Gedenkkranz hat Steinmeier bei seinem Besuch in der Ukraine in Odessa abgelegt – es hätte ein Minimalzeichen sein können. Seine Aussage mir gegenüber war schlicht: Die ukrainische (Putsch-) Regierung habe dies nicht gewollt.  Zu sagen, man hat es erst im Nachhinein erkennen können? Nein, man hat ganz bewusst auf diese Kräfte gesetzt, um zu erreichen, was man erreichen wollte – und man hat es ja auch erreicht. Das heißt, man kooperiert mit Faschisten, mit einer Ideologie, von der man gehofft hatte, dass sie nach 1945 besiegt sei, um einen anderen Gegner sozusagen schachmatt zu setzen. Der Punkt ist: Russland wird als Feind so definiert, dass man mit allen anderen kooperieren kann, da sie das „geringere Übel“ darstellen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund – Islamisten und Faschisten. Das ist unglaublich. Und dass die Grünen dabei eine so herausragende Rolle gespielt haben, auch bei dem Maidan, und auch die Augen verschlossen haben mit Blick auf die Faschisten, hat mich auch entsetzt.

Ossenkopp: Die Grünen haben auch eine zentrale Rolle dabei gespielt, militärisch in Libyen einzugreifen. Was ist aus Ihrer Sicht mit dem Land geschehen.

Libyen ist heute ein zerschlagener Staat, ähnlich wie der Irak, wahrscheinlich sogar schlimmer als der Irak im Moment. Man hat völlig verbrannte Erde hinterlassen, mit Hunderttausenden von Toten. Und die Grünen sind weitergezogen und zündeln in Syrien. Und wer weiß, wo sie als nächsten noch zündeln. Sie würden ja am liebsten mit der Bundeswehr nach Minsk einmarschieren, um dort die „Menschenrechte“ umzusetzen. Nein, also die Verantwortung für ihre Politik sind die Grünen nicht bereit zu übernehmen, sondern sie wollen ihre „Werte“ umgesetzt sehen, und wenn es schief geht, ziehen sie zum nächsten Schlachtfeld, egal was passiert. Es sind ja nicht ihre Knochen, nicht ihr Blut, nicht ihre Verwandten, die auf dem Feld liegen bleiben. Das ist schon ein hohes Maß an Verantwortungslosigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ich glaube, nein, ich bin fest davon überzeugt:  Moral ist ein schlechter Ratgeber für Außenpolitik – vor allem, wenn die Moral und die Werte auch noch vorgeschoben sind, um unliebsame Regierungen moralisch zu knebeln, im Hintergrund aber andere Interessen zu verfolgen. „Interessen“ zu formulieren hingegen, ist eine tragfähige Verhandlungsbasis. An Interessen können sich die Gesprächspartner orientieren und für alle Seiten akzeptable Lösungen identifizieren. Das Kooperieren mit faschistischen und islamistischen Kräften ist ja nicht erst mit der Ukraine und mit Syrien aufgekommen. Bei der Zerlegung Jugoslawiens wurde genauso vorgegangen, mit Tudjman, letztendlich ein bekennender kroatischer Faschist, mit Izetbegovic, ein bekennender bosnischer Islamist, mit den Albanern im Kosovo. Ich habe es ein paar Mal erlebt, mit `Heil Hitler´ begrüßt zu werden, als ich dort gearbeitet habe und sie hörten, dass ich aus Deutschland komme. Und die UCK machte kein Geheimnis aus ihrer Gesinnung, aber es waren ja Bündnispartner Deutschlands gegen Jugoslawien. Mit Blick auf Jugoslawien muss man feststellen: Berlin, bzw. seinerzeit Bonn, hat bei der Zerlegung Jugoslawiens genau auf diese Kräfte gesetzt, mit denen sie 1941-45 schon einmal zusammengearbeitet haben, genau die gleichen Kräfte. Was sagt uns das?

Ossenkopp: Das entspricht demselben Muster, dass man in der Ukraine mit den Banderisten zusammengearbeitet hat.

Neu: Genau – was mich entsetzt, und wo man sich fragt, ob man tatsächlich aus der Geschichte gelernt hat. Die industrielle Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch die Faschisten ist ewiger Bestandteil der deutschen Geschichte – und der Umgang soll demonstrieren, dass Deutschland aus dieser Verantwortung gelernt hat. Aber hat es das tatsächlich, jenseits der und zusätzlich zur Aufarbeitung des Holocausts? Denn die millionenfachen Opfer in Ost- und Südosteuropa übersieht man gerne, und vor allem diejenigen, deren Länder (Russland, Serbien, Griechenland) sich nicht uns unterordnen wollen. Wir sagen: die Russen, die Weißrussen, die Serben – da haut man dann gerne nochmal drauf und verbündet sich genau mit den Kräften in jenen Ländern, die damals bei der Zerlegung ihrer Länder mit dem faschistischen Deutschland kooperierten. Dass zeigt, dass man nicht willens ist, die eigene historische Verantwortung tatsächlich zu übernehmen – und schon gar nicht, wenn es um Reparationsleistungen oder unbotmäßige Staaten geht. Sie erwähnten vorhin, dass Ihr russischer Kollege ein tiefes historisches Bewusstsein hat; aber das fehlt in Deutschland, vor allem in der Politik. Opfer haben ohnehin ein längeres Gedächtnis als Täter.

Ossenkopp: Das mit der fehlenden historischen Tiefe ist natürlich fatal, weil man dann auf Ursachen, beispielsweise jene, die zum Zweiten Weltkrieg geführt haben, nicht mehr zurückgreifen kann. Putin hat das in einem Artikel vom Juni angesprochen. Er sagte, es sei falsch, die Sowjetunion auf eine Stufe zu stellen mit den Nationalsozialisten. Außerdem muss man auch die Polen, die Franzosen und die Briten kritisieren, die sich durchaus mit Hitler getroffen haben, und die auch die Tschechoslowakei beim Münchener Abkommen verraten und ausgeliefert haben. Das alles ist ein sehr heißes Eisen. Ist solch eine Diskussion, die Putin anregen wollte, überhaupt möglich?

Neu: Sie wäre sinnvoll, wenn alle Archive geöffnet würden und wenn man eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte betreibt. Es war mir bis vor kurzem auch nicht bewusst, dass Polen bei der Münchner Konferenz selber ein Nutznießer wurde und eine Region in der Tschechoslowakei okkupiert hat: die Region Teschen. Es ist zwar keine große Region gewesen, aber sie haben sich an der Verfügungsmasse Slowakei, ähnlich wie Deutschland, dann auch bereichert. Danach wurden sie selber Opfer. Mir war auch bis vor wenigen Jahren die Bedeutung der Curzon-Linie gar nicht so klar. Das spielt eben bei dem Hitler-Stalin-Pakt eine große Rolle – was wir in der Schule nicht gelernt haben, und das gehört zur Propaganda dazu, dass man sagt: Hitler-Stalin-Pakt bedeutet Aufteilung Polens. Aber so einfach war das nicht. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges hat sich Sowjetrussland gebildet, und man hat versucht, die Westgrenze anhand der ethnischen Verteilung zwischen der Sowjetunion und Polen zu ziehen. Der britische Außenminister George Curzon hat dann eine Linie gezogen, wo relativ deutlich war: auf der einen Seite leben Polen, auf der anderen Seite Weißrussen und Ukrainer – nicht in Gänze, das geht einfach nicht in so einem Gebiet mit Übergang von einer Ethnie in die andere, aber doch schwerpunktmäßig. Diese Linie sollte dann die Westgrenze der Sowjetunion werden. Polen hat dann den Krieg mit der Sowjetunion begonnen und in dem Vertrag von Riga 1921 seine Grenze nach Osten verschoben, etwa 200 km östlich der Curzon-Linie, die seinerzeit vorgeschlagen wurde als die Westgrenze der Sowjetunion. Im Hitler-Stalin Pakt revidiert Stalin die Territorialgewinne Polens von 1921 bis hin zur Curzon-Linien – an einigen Stellen auch darüber hinaus, aber in etwa 90% sind identisch mit der Curzon-Linie, die von den Westmächten unter Curzon als die Westgrenze der Sowjetunion festgelegt worden ist. Das haben wir alle in der Schule und auch im Studium nicht gelernt. Das ist aber ganz wichtig, um zu erkennen, bis wohin Stalin gegangen ist und was die Nazis gemacht haben. Allein deshalb trifft schon die Gleichsetzung nicht zu, abgesehen von dem Angriffskrieg Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion. Aber auch hier wurde getrickst. Es wurde getrickst bei der Darstellung des Münchner Abkommens. Der große Skandal ist doch, dass Frankreich, Großbritannien und auch Polen die Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland verkauft haben – für ein bisschen Frieden wie man glaubte. Obschon eine andere Option bestand: Die Sowjets haben in den 1930er Jahren immer wieder eine gemeinsame Front mit London, Paris und Warschau gegen Deutschland gesucht, aber sind immer wieder auf Ablehnung gestoßen.

Ossenkopp: Das heißt also, was man der Sowjetunion vorwirft, nämlich das Vorrücken bestimmter Truppen auf strategische Plätze, um ein ungehindertes Einfallen der Nazis zu verhindern, wird ihnen fälschlicherweise als ein Angriffsmanöver ausgelegt.

Neu: Zumindest bin ich der Auffassung, dass die Sowjetunion das Recht hatte, die Grenzen, die 20 Jahre zuvor von Polen durch militärische Maßnahmen nach Osten verschoben worden sind, zu revidieren, in dem Sinne wie sie 1919 festgelegt worden sind.

Ossenkopp: Putin schreibt auch, dass zu dem Zeitpunkt, als Hitler die Sowjetunion im Osten angriff, seine Westflanke eigentlich weit unterlegen war gegenüber alliierten, also vor allem französischen und britischen Truppen, aber jene ihn nicht angegriffen haben, Er sagte, die damalige Redewendung lautete: im Osten Blitzkrieg, im Westen Sitzkrieg. Was kann man daraus ableiten?

Neu: Böse Zungen würden sagen: sollen sich doch das faschistische Deutschland und die Sowjetunion gegenseitig niedermetzeln, und Großbritannien und Frankreich sind der lachende Dritte. Aber das hat man, glaube ich, in London und Paris falsch eingeschätzt.

Ossenkopp: in London soll die Diskussion gewesen sein: wenn man Hitlers Mein Kampf liest, sieht man, dass er die Sowjetunion und slawische Völker aus rassistischen Motiven auslöschen will. Deswegen ist das Kalkül gewesen, lasst doch die beiden sich erst einmal zerreißen.

Neu: Genau, und in diesem Trio Warschau, Paris, London war Warschau der schwächere Partner, den Paris und London, wie zuvor die Tschechoslowakei, auch hat fallen lassen. Als Polen überfallen wurde, haben sich Paris und London nicht großartig militärisch bemüht, den Polen Hilfe zu leisten. Man erkennt, wie der Westen erst die Tschechoslowakei und dann Polen fallen gelassen hat. Letztendlich standen Frankreich und Großbritannien relativ allein da, sie haben ihre Verbündeten fallen gelassen, in dem Irrglauben von NAZI-Deutschland verschont zu werden. Schließlich wurden sie dann selber Opfer des Angriffs Nazi-Deutschlands. Und die Hauptlast zur Befreiung Europas vom Faschismus musste dann die Sowjetunion tragen. Und heute erleben wir immer wieder Versuche einer Geschichtsklitterung, die die Rolle der Sowjetunion beim Sieg über den Faschismus relativieren soll.


[1] Dmitri Trenin: Ende der Beziehung. https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/ende-der-beziehung-4649/

Autor: Stephan Ossenkopp

Freiberuflicher Redakteur und Politik-Experte, wohnhaft in Berlin.

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