Die OPCW Untersuchung über den angeblichen Einsatz von chemischen Waffen in Douma, Syrien

Ob die russisch-chinesische Partnerschaft in ein offizielles Militärbündnis münden wird oder nicht, bleibt trotz vermehrt aufkommender Anzeichen noch unklar.

OPCW-Vertragsstaatenkonferenz im November 2019 auf dem Weltforum in Den Haag, Niederlande (Quelle: Flickr)

Führende internationale Stimmen und Chemiewaffenexperten fordern Rechenschaftspflicht und Transparenz bei der OPCW (OVCW)

(leicht gekürzte deutsche Version einer Pressemitteilung der Berlin Group 21)

Im April 2018 wurden bei einem Chemiewaffenangriff in der Stadt Douma in Syrien angeblich etwa 50 Zivilisten getötet. Innerhalb einer Woche führten die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs Vergeltungsluftangriffe durch, basierend auf der Behauptung, dass die syrische Regierung für den angeblichen Angriff verantwortlich sei, und dies, bevor überhaupt eine Untersuchung durch die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) durchgeführt worden war. Die OPCW entsandte kurz nach dem angeblichen Angriff eine Fact Finding Mission (FFM), veröffentlichte im Sommer 2018 einen ersten Zwischenbericht und am 1. März 2019 einen Abschlussbericht. Der Abschlussbericht kam zu dem Schluss, dass es hinreichende Gründe für die Annahme gab, dass Chlor als Waffe eingesetzt worden war, und deutete an, dass der Angriff von der syrischen Luftwaffe durchgeführt worden war.

Mit dem Durchsickern einer internen technischen Studie der OPCW, die Zweifel an der offiziellen Version aufkommen ließ, kam es schnell zu Kontroversen. Ende 2019 schilderte ein ehemaliger OPCW-Beamter vor einem von der Courage Foundation veranstalteten Panel im Oktober 2019 erhebliche wissenschaftliche und verfahrenstechnische Unregelmäßigkeiten. Nach nunmehr fast zwei Jahren des Streits, mit wiederholten Enthüllungen und Protesten durch abweichende OPCW-Wissenschaftler, wurde kürzlich eine Erklärung an den Generaldirektor der OPCW geschickt (und in Kopie an die Delegationen aller 193 Mitgliedsstaaten), in der Transparenz und Rechenschaftspflicht bei der Organisation gefordert werden. Zu den Unterzeichnern gehören 28 international angesehene Personen, darunter der erste Generaldirektor der OPCW, ehemalige OPCW-Inspektoren und zwei ehemalige stellvertretende UN-Generalsekretäre.

Der Zweck der Initiative, Transparenz und Rechenschaftspflicht von der OPCW zu fordern, hat vier grundlegende Gründe:

1. Um die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in eine wichtige internationale Organisation wiederherzustellen und ihre Unabhängigkeit zu schützen

2. um gegen die absichtliche Schwärzung von Beweisen im Fall Douma und das Versäumnis, eine glaubwürdige und transparente Untersuchung durchzuführen, zu protestieren

3. um die ernste Besorgnis auszudrücken, dass der Vorfall von Douma zu einem weiteren Beispiel für die betrügerische Manipulation von Fakten geworden ist, um politische und militärische Aktionen zu rechtfertigen, die an die frühere fabrizierte Geschichte über Massenvernichtungswaffen im Irak erinnern, die zur Rechtfertigung eines Krieges benutzt wurde

4. um die Zivilgesellschaft in Syrien und letztlich auch anderswo vor künftigem Leid zu schützen.

Hat die Erklärung unterschrieben: die ehem. US-Abgeordnete Tulsi Gabbard, hier 2019 in Fremont, Kalifornien. (Foto: Flickr)

Besorgniserklärung – Die OVCW Untersuchung über den angeblichen Einsatz von chemischen Waffen in Douma, Syrien

Wir möchten unsere tiefe Besorgnis über die anhaltende Kontroverse und die politischen Auswirkungen zum Ausdruck bringen, die es um die OVCW und ihre Untersuchung über den angeblichen Angriff mit chemischen Waffen in Douma, Syrien, am 7. April 2018 gibt.

Seit die OVCW ihren Abschlussbericht im März 2019 veröffentlicht hat, haben zahlreiche, beunruhigende Entwicklungen ernste und erhebliche Besorgnis hinsichtlich der Ausführung dieser Untersuchung hervorgebracht. Zu diesen Entwicklungen gehören Fälle, in denen Inspektoren der OVCW, die an der Untersuchung beteiligt waren, erhebliche verfahrensbezogene und wissenschaftliche Unregelmäßigkeiten, das Fehlen einer erheblichen Menge an beweiskräftigenden Dokumenten festgestellt und belastende Aussagen bei Sitzungen des UN-Sicherheitsrates gemacht haben.

Es ist nunmehr allgemein bekannt, dass einige hochrangige Inspektoren, die an der Untersuchung beteiligt waren, einer von ihnen in zentraler Position, die Art, in der die Untersuchung ihre Schlußfolgerungen ableitete, zurückweisen. Der OVCW-Geschäftsführung wird vorgeworfen, unbegründete und möglicherweise manipulierte Befunde zu akzeptieren, was schwerwiegende geo-politische und Sicherheitsfolgen hat. Wiederholte Aufrufe von einigen Mitgliedern des Exekutivrates der OVCW, es zuzulassen, dass alle Inspektoren angehört werden, wurden blockiert.

Die Besorgnis der Inspektoren wird vom ersten Direktor der OVCW, José Bustani geteilt und eine beachtliche Zahl von führenden Persönlichkeiten hat die OVCW zu Transparenz und Verantwortung aufgerufen. Bustani wurde kürzlich persönlich von wichtigen Mitgliedern des Sicherheitsrates daran gehindert, an einer Anhörung über das Syrien-Dossier teilzunehmen. In einem persönlichen Appell an den Generaldirektor stellte Botschafter Bustani fest, wenn die Organisation sich der Durchführung ihrer Douma Untersuchung sicher ist, sollte sie keine Schwierigkeiten damit haben, sich mit den Bedenken der Inspektoren zu befassen.

Unglücklicherweise hat die Spitze der OVCW-Geschäftsführung bis heute versäumt, auf die an sie gerichteten Vorwürfe zu antworten. Und obwohl sie gegenteilige Erklärungen abgegeben hat, hat die Geschäftsführung – soweit wir gehört haben – es nie zugelassen, die Bedenken der Mitglieder des Untersuchungsteams angemessen anzuhören, noch hat sie sich mit den meisten von ihnen getroffen.

Stattdessen ist sie der Sache ausgewichen und hat eine Untersuchung über ein bekannt gewordenes Dokument in Verbindung zu dem Douma Fall eingeleitet. Und sie hat öffentlich ihre erfahrensten Inspektoren dafür verurteilt, dass sie sich geäußert haben.

Besonders beunruhigend ist die jüngste Entwicklung, dass der Entwurf eines Briefes, der – wie es fälschlich hieß – angeblich vom Generaldirektor an einen der andersdenkenden Inspektoren geschickt worden sein soll, einer offenen Quelle, einer Recherchewebseite, zugespielt wurde. Diese veröffentlichte den Brief und legte dabei die Identität des Inspektors, um den es ging, offen. Das war ein offenkundiger Versuch, den ehemaligen hochrangigen OVCW-Wissenschaftler zu verleumden.
Noch alarmierender ist, dass kürzlich in einer Serie von BBC 4 Radio eine anonyme Quelle zu hören war, von der es hieß, sie habe Kenntnis von der OVCW-Untersuchung in Douma. In dem Interview mit der BBC brachte diese Quelle nicht nur die zwei Inspektoren in Verruf, die eine abweichende Meinung geäußert haben, sondern auch Botschafter Bustani persönlich. Wichtig ist zudem, dass im Dezember 2020 Informationen bekannt wurden, wonach eine Reihe von hochrangigen OVCW Beamten einen der OVCW Inspektoren, der über Amtsmißbrauch gesprochen hatte, unterstützten.

Die Sache um die es geht, droht das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der OVCW ernsthaft zu beschädigen und damit die zentrale Rolle beim Streben nach internationalem Frieden und Sicherheit zu untergraben. Es ist einfach nicht haltbar für eine wissenschaftliche Organisation wie der OVCW, eine offene Antwort auf Kritik und Bedenken seiner eigenen Wissenschaftler zu verweigern. Und gleichzeitig mit Versuchen in Verbindung gebracht zu werden, eben diese Wissenschaftler unglaubwürdig zu machen und zu verleumden.

Darüber hinaus steigen mit der andauernden Kontroverse um den Douma Bericht auch die Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit von früheren Berichten der Untersuchungsmission (Fact-Finding-Mission, FFM). Dazu gehört auch die Untersuchung über den angeblichen Angriff auf Khan Shaykhun 2017.

Wir sind überzeugt, dass die Interessen der OVCW durch den Generaldirektor am besten dadurch vertreten werden, wenn ein transparentes und neutrales Forum zur Verfügung gestellt wird, in dem die Bedenken aller Ermittler gehört werden können und zusätzlich sicherzustellen, dass eine vollkommen objektive und wissenschaftliche Untersuchung durchgeführt wird.

Zu diesem Zweck rufen wir den Generaldirektor der OVCW auf, Mut zu zeigen und die Probleme anzugehen, die es innerhalb seiner Organisation hinsichtlich dieser Untersuchung gibt, und sicherzustellen, dass die Mitgliedsstaaten und die Vereinten Nationen entsprechend unterrichtet werden. Wir hoffen und sind überzeugt, dass auf diesem Weg die Glaubwürdigkeit und Integrität der OVCW wieder hergestellt werden kann.

Unterzeichner zur Unterstützung der Erklärung der Besorgnis

José Bustani, Botschafter von Brasilien, erster Generaldirektor der OVCW und ehemaliger Botschafter in Großbritannien und Frankreich.

Professor Noam Chomsky, Ehrenprofessor der Universität von Arizona und Professor (em.) des Massachusetts Instituts für Technologie (MIT).

Andrew Cockburn, Herausgeber Washington, Harper’s Magazine.

Daniel Ellsberg, PERI Ausgezeichneter Forschungsfellow, UMass Amherst. Ehemaliger Beamter des US-Verteidigungsministeriums und des US-Außenministeriums. Ehemaliger Beamter des US-Verteidigungsministeriums (GS-18) und des US-Außenministeriums (FSR-1).

Professor Richard Falk, Professor für Völkerrecht (em.) Princeton Universität.

Tulsi Gabbard, ehemalige Präsidentschaftskandidatin und Abgeordnete im Kongress für Hawai.

Professor Dr. Ulrich Gottstein, für die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges, IPPNW-Deutschland.

Katharine Gun, ehemalige GCHQ (UK-Government), Whistleblower.

Denis J. Halliday, beigeordneter UN-Generalsekretär (1994-98).

Professor Pervez Houdbhoy, Quaid-e-Azam Universität und ex Pugwash.

Kristinn Hrafnnson, Chefredakteur Wikileaks.

Dr. Sabine Krüger, Analytische Chemikerin, ehemalige OVCW-Inspektorin 1997-2009.

Annie Machon, Ehemaliger MI5 Offizier, UK security services.

Ray McGovern, ehemaliger CIA-Präsidentenberater; Mitbegründer der Veteranen des Nachrichtendienstes für Vernunft (Veteran Intelligence Professionals for Sanity).

Elizabeth Murray, ehemalige NSA-Offizierin für den Nahen Osten, Mitglied (pensioniert) der NSA; Veteranen des Nachrichtendienstes für Vernunft (Veteran Intelligence Professionals for Sanity); Sam Adams Associates for Integrity in Intelligence.

Professor Götz Neuneck, Pugwash Rat, Deutscher Pugwash Vorstand.

Dirk van Niekerk, ehemaliger OVCW-Untersuchungsteamleiter, Leiter von OVCW-Sondermissionen im Irak.

John Pilger, Journalist und Filmemacher, ausgezeichnet mit Emmy and Bafta.

Professor Theodore A. Postol, Professor Emeritus für Wissenschaft, Technik und Nationale Sicherheitspolitik, Massachusetts Institut der Technologie (MIT).

Dr. Antonius Roof, ehemaliger OVCW-Untersuchungsteamleiter und Leiter der Industrie Inspektionen.

Professor John Avery Scales, Professor, Pugwash Rat und Dänischer Pugwash Vorstand.

Hans von Sponeck, ehemaliger beigeordneter UN-Generalsekretär und Humanitärer UN-Koordinator (Irak).

Alan Steadman, Spezialist für chemische Waffenmunition, ehemaliger OVCW-Untersuchungsteamleiter, UNSCOM Inspektor.

Jonathan Steele, Journalist, Autor.

Roger Waters, Musiker und Aktivist.

Lord West of Spithead, Erster Seelord und Chef des Marinestabs 2002-2006.

Oliver Stone, Filmregisseur, Produzent und Schriftsteller.

Oberst (ret.) Lawrence B. Wilkerson, US-Armee, Gastprofessor am William und Mary College, ehemaliger Stabschef des US-Außenministers Colin Powell.


Die Erklärung erscheint hier mit Genehmigung eines der Hauptinitiatoren. Weitere Informationen erhalten Sie auf www.berlingroup21.org

Kreuzungspunkt Südkaukasus: Großmächte und Regionale Konflikte

Der Südkaukasus ist geprägt von Konflikten und wirtschaftlichen, sozialen und politischen Konfrontationen. Dr. Mher Sahakyan analysiert die wichtigsten Probleme und zeigt Wege auf, die Spannungen und Differenzen zwischen den beteiligten Ländern zu lösen.

Vladimir Putin am 20.11.2020 bei einer Sitzung über die russische Friedensmission in Berg-Karabach (Foto: Kreml)

Über den Autor: Dr. Mher Sahakyan ist 2020/21 AsiaGlobal Fellow am Asia Global Institute, Universität Hongkong. Dr. Sahakyan ist Gründer und Direktor des China-Eurasia Council for Political and Strategic Research in Eriwan, Armenien. Er hat an der chinesischen Nanjing Universität über internationale Beziehungen promoviert.

Der Südkaukasus – ein rund 200.000 Quadratkilometer großes, zerklüftetes Gebiet, das Georgien, Armenien und Aserbaidschan umfasst – ist mit seinen großen Öl-, Gas-, Metall- und Süßwasservorkommen ein strategisch wichtiger Knotenpunkt. Über diese Region strebt Russland eine Präsenz im Nahen Osten und am Persischen Golf an, während die Türkei eine Verbindung zu den zentralasiatischen Turksprachen-Staaten anstrebt, der Iran sich mit dem Schwarzen Meer verbindet, Europa sich nach Asien wagt und China sich an Westasien und Europa anschmiegt.

In den letzten Jahren der Sowjetunion verstärkten sich die langjährigen territorialen Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Nationalitäten und wurden zu groß angelegten militärischen Auseinandersetzungen. Infolgedessen brach der Konflikt in Berg-Karabach aus – ein Gebiet mit armenischer Bevölkerungsmehrheit, das sich sowohl von der UdSSR als auch von der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik abspalten wollte. Dieser militärische Konflikt endete mit der de facto Schaffung neuer Staaten im Südkaukasus. Die Verhandlungen über den endgültigen de-jure-Status von Artsakh (wie Berg-Karabach auf Armenisch genannt wird) zwischen Armenien und Aserbaidschan laufen noch immer unter der Schirmherrschaft der Minsk-Gruppe, die 1992 von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gegründet wurde, mit Russland, den USA und Frankreich als Ko-Vorsitzenden.

In der Zwischenzeit ist auch die interne Situation in Georgien seit Jahren instabil, mit mehreren ethnischen Zusammenstößen. All diese Entwicklungen haben die wirtschaftliche Verflechtung der Region verhindert und eine dysfunktionale politische Situation geschaffen, die externen Akteuren Möglichkeiten zur Einmischung bot.

Der russische Faktor

Russland sieht den Südkaukasus nach wie vor als in seiner Einflusssphäre liegend. Im Artsakh-Konflikt versucht Moskau, eine neutrale Rolle zu spielen, um gute Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan aufrechtzuerhalten, was ihm einen gewissen Einfluss und ein Druckmittel verschafft. Armenien ist ein militärischer Verbündeter Russlands, und Moskau hat einen Militärstützpunkt in Gyumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens, und einen Flugplatz in der Hauptstadt Eriwan. Armenien ist Mitglied der von Russland angeführten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO). Armenien braucht Russland, um seine Westgrenze zur Türkei, Aserbaidschans Hauptverbündetem, zu sichern, während Russland Armenien als Puffer braucht, um die Bestrebungen einiger türkischer Politiker zu verhindern, einen pan-türkischen Staat zu schaffen, der die Türkei, Aserbaidschan, Zentralasien und Xinjiang umfasst.

Mit Aserbaidschan unterhält Russland eine strategische Partnerschaft. Moskau ist der Hauptlieferant von Waffen an Aserbaidschan, was zu Problemen in den russisch-armenischen Beziehungen führt. Russlands militärisches Engagement reicht weiter in den Kaukasus hinein. Es führte 2008 einen kurzen Krieg mit Georgien, als Moskau die abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien unterstützte.

Insgesamt spielt Russland im Südkaukasus immer noch eine besonders wichtige Rolle, da es aktiv in regionale Konflikte verwickelt ist. Moskau wird versuchen, seinen Einfluss in Armenien und Aserbaidschan durch seine Vermittlerrolle beim Karabach-Konflikt aufrechtzuerhalten und wird Wege finden, politische Veränderungen in Georgien herbeizuführen, um die ehemalige Sowjetrepublik wieder in Richtung Moskau zu orientieren.

Der Sprecher des US-Repräsentantenhauses, John Boehner (links), empfing am 12.1.2011 Micheil Saakaschwili, Präsident der Republik Georgien. (Foto: Speaker Boehner / Flickr)

Der amerikanische Faktor

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 bauten die USA Beziehungen zu den neu entstandenen Staaten des Südkaukasus auf und stärkten ihre Position in der Region. Die USA bauten eine strategische Partnerschaft mit Georgien auf und ermutigten den damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili, die russischen Militärbasen zu entfernen. Moskau hat immer noch minimalen Einfluss auf die georgische Innenpolitik. Das nationale Sicherheitskonzept von Tiflis beinhaltet eine mögliche Mitgliedschaft in der North Atlantic Treaty Organization (NATO), dem westlichen Sicherheitsbündnis. Dies kollidiert mit den Interessen Russlands, das versucht hat, die NATO-Erweiterung zu blockieren. Moskau sieht darin eine Herausforderung für seine nationale Sicherheit.

Georgien zahlte einen bemerkenswert hohen Preis für seine Orientierung an den USA, indem es die Kontrolle über Abchasien und Südossetien verlor, als Moskau diese als unabhängige Staaten anerkannte. Aber nach dem Krieg mit Russland erhielt Georgien eine Milliarde US-Dollar an Hilfe von den USA, was für die Aufrechterhaltung der politischen und sozialen Stabilität im Land entscheidend war. Washington gewährte Tiflis auch besondere Handelspräferenzen.

Die USA normalisierten 1992 die Beziehungen zu Armenien und Aserbaidschan. Obwohl die armenisch-amerikanische Bevölkerung klein ist (schätzungsweise bis zu 1,5 Millionen), waren die Lobbygruppen der Gemeinschaft sehr aktiv und setzten sich erfolgreich dafür ein, dass der US-Senat 2019 eine Resolution verabschiedet, die die Ermordung von 1,5 Millionen Armeniern durch das Osmanische Reich von 1915 bis 1923 als Völkermord anerkennt, was die Türkei verärgert. Da Armenien jedoch ein militärischer Verbündeter Russlands und Mitglied der EAEU ist, ist die Agenda für die armenisch-amerikanischen Beziehungen begrenzt. Aserbaidschan seinerseits ist darauf bedacht, starke Beziehungen zu Washington aufzubauen. Mehrere US-Firmen haben in Öl- und Gasproduktionsanlagen im Land investiert, während das amerikanische Militär Aserbaidschan als Sprungbrett für Operationen in Afghanistan genutzt hat.

Pressekonferenz zur Ratifizierung des Assoziierungsabkommens EU-Georgien, mit dem georgischen Präsidenten Giorgi Margvelashvili (rechts). (Foto: Europäisches Parlament / Flickr)

Der europäische Faktor

1993, als die postsowjetische Welt Gestalt annahm, startete die Europäische Union das Projekt Transport Corridor Europe-Caucasus-Asia (TRACECA), das Europa mit dem Südkaukasus und Asien verbinden sollte, ohne russisches Territorium zu durchqueren. Sechzehn Jahre später gründete die EU die Östliche Partnerschaft, um die Beziehungen zu Armenien, Georgien, Aserbaidschan und anderen Staaten zu vertiefen. Georgiens wichtigste außenpolitische Priorität ist es, Mitglied der Europäischen Union zu werden, und es hat angedeutet, dass es dies bis 2024 beantragen wird. Im Juni 2014 unterzeichnete Georgien ein Assoziierungsabkommen mit der EU, das die Schaffung einer weitreichenden und umfassenden Freihandelszone zwischen den beiden Ländern vorsieht. Auch Armenien strebt eine stärkere Zusammenarbeit mit der EU an und unterzeichnete 2017 ein umfassendes und erweitertes Partnerschaftsabkommen. Die EU wiederum ist an einer Zusammenarbeit mit Aserbaidschan im Bereich der natürlichen Ressourcen interessiert, da sie aserbaidschanisches Öl und Gas als Alternative zu russischer Energie sieht.

Die EU unterstützt die Staaten des Südkaukasus seit langem in ihren Bemühungen, Reformen in den Bereichen Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und öffentliche Verwaltung durchzuführen. In Armenien und Georgien wurden Organisationen und Institutionen zum Schutz der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit ins Leben gerufen, die die beiden Länder an die Werte der EU angleichen und ihre demokratischen Transformationen katalysieren. Aserbaidschan ist ein autokratischer Staat, in dem die Familie Alijew das Sagen hat. Ilham Alijew ist seit 2003 Präsident (seine Frau ist Vizepräsidentin), als er seinen Vater ablöste, der seit 1993 regierte.

Der chinesische Faktor

In den letzten Jahren hat China versucht, die Beziehungen zu Armenien, Georgien und Aserbaidschan im Rahmen seines globalen Infrastruktur-Aushängeschilds, der Belt and Road Initiative (BRI), auszubauen. Während China in Armenien wenig investiert hat, hat es mehrere hundert Millionen Dollar in Georgien und Aserbaidschan investiert, die beide Mitglieder der von Peking geführten Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) sind. (Armenien ist ein angehendes Mitglied.) Zu den wichtigsten unterzeichneten AIIB-Deals gehören: Aserbaidschan erhielt einen 600-Millionen-Dollar-Kredit für den Bau einer transanatolischen Gaspipeline, während Georgien 114 Millionen US-Dollar für den Bau einer Umgehungsstraße erhielt.

Der Südkaukasus ist ein wichtiger Knotenpunkt im Wirtschaftskorridor China-Zentralasien-Westasien (CCAWEC). Zu den wichtigsten Projekten gehört die 500 Meilen lange Eisenbahnstrecke Baku-Tbilisi-Kars, die 2017 eröffnet wurde und die Häfen am Kaspischen Meer mit dem Mittelmeer verbindet. Armenien gibt 1,5 Milliarden US-Dollar für den Bau des 350 Meilen langen Nord-Süd-Straßenkorridors aus, der die Häfen am Persischen Golf mit denen in Georgien am Schwarzen Meer verbinden soll.

In Anbetracht des wachsenden wirtschaftlichen Einflusses Chinas im Südkaukasus und seinen Nachbarländern sind die Länder der Region stark an der BRI interessiert. Dies scheint zu unterstreichen, dass die Zeit für China arbeitet und Pekings wachsende wirtschaftliche Präsenz ihm in naher Zukunft auch größeren politischen Einfluss verschaffen wird.

NATO-Empfang am 4.9.2014. Ilham Aliyev, Präsident von Aserbaidschan (l.) und Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei (r). (Foto: NATO / Flickr)

Der türkische Faktor

Seit der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit hat Georgien gute Beziehungen zur Türkei aufgebaut. Die beiden Länder unterzeichneten ein Freihandelsabkommen, und die Türkei ist der wichtigste Handelspartner Georgiens.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kooperierten die Türkei und Aserbaidschan in den Bereichen Politik, Militär, Wirtschaft und Energie. Die Führer beider Staaten sprechen gerne von „einer Nation, zwei Staaten“ und erkennen an, dass sie eine gemeinsame Sprache und Kultur haben. Der Einfluss der Türkei in Aserbaidschan ist enorm, da Ankara Baku in seinem Konflikt mit Armenien stark unterstützt und die türkisch-armenische Grenze einseitig schließt. Die Beteiligung der Türkei am 44-tägigen Krieg um Artsakh, der am 27. September 2020 ausbrach, war entscheidend, da die Hilfe des türkischen Militärgeheimdienstes und durch Drohnen Aserbaidschan half, die Armee von Artsakh zu überwinden, die von Armenien unterstützt wurde und hauptsächlich mit den in der Sowjetunion in den 1980er Jahren produzierten Waffen ausgerüstet war.

Die Türkei schickte Dschihadisten aus Syrien nach Aserbaidschan, um an den militärischen Operationen gegen die christlichen Armenier von Artsakh teilzunehmen, eine Aktion, die vom französischen Präsidenten Emanuel Macron am 1. Oktober 2020 während der EU-Ratssitzung und auch vom russischen Außenministerium bestätigt wurde. Als Ergebnis der Kämpfe besetzte Aserbaidschan die zweite Hauptstadt von Artsakh und viele andere Siedlungen. Baku nahm auch sieben Regionen unter Kontrolle, die es während des ersten Artsakh-Krieges in den 1990er Jahren verloren hatte. Die armenische Seite verlor mehr als 4.000 Soldaten und musste einem von Russland vermittelten Waffenstillstand zustimmen, der es russischen Friedenstruppen ermöglichte, in Artsakh einzudringen. Infolgedessen kehrten die türkischen Truppen nach 100 Jahren nach Aserbaidschan zurück, wo sie die Energie- und Transportinfrastruktur kontrollieren, die Europa mit Asien verbindet.

Ankaras starkes Bündnis mit Baku während des Krieges könnte der Türkei helfen, ihren historischen Gegner Armenien zu schwächen, das isoliert wurde und in politische Turbulenzen geraten ist. Es hat auch die strategische Position Russlands in der Region erschüttert. Aus diesem Grund mehren sich in Armenien die Rufe nach einer militärischen Annäherung zwischen Russland und Armenien. Insgesamt hat die Türkei ein starkes politisches, wirtschaftliches und militärisches Druckmittel im Südkaukasus erlangt, wo sie aufgrund ihrer besonderen Beziehungen und ihres steigenden Einflusses in Aserbaidschan noch lange eingebettet bleiben wird.

Vertrauen aufbauen

Es gibt viele Schritte, die die Staaten des Südkaukasus und ihre Großmächte unternehmen könnten, um die Stabilität zu fördern und Konflikte zu verhindern. Armenien könnte versuchen, die Rolle eines Vermittlers bei der Normalisierung der Beziehungen zwischen Georgien und Russland zu spielen. Russische und georgische Entscheidungsträger könnten hochrangige Treffen in Armenien abhalten, um die Beziehungen zwischen den beiden Nationen zu verbessern. Im Gegenzug kann Georgien seine guten Beziehungen zu Armenien, Aserbaidschan und der Türkei nutzen, um die Rolle des Friedensstifters im Südkaukasus zu übernehmen.

Auf der geopolitischen Ebene könnten Russland und China eine Resolution im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vorschlagen, um ein Waffenembargo gegen alle in Artsakh involvierten Seiten zu verhängen. Dies könnte den Rüstungswettlauf zwischen Aserbaidschan und Armenien stoppen und eine Chance bieten, den Berg-Karabach-Konflikt friedlich zu lösen. China bekäme die Möglichkeit, mit viel geringerem Risiko große Investitionen in dieser Region zu tätigen.

Aserbaidschan seinerseits muss sich der Realität stellen, dass das Volk von Artsakh das Recht auf Selbstbestimmung gewählt hat und sich jedem Versuch widersetzen wird, den Streit durch militärische Maßnahmen zu beenden, da keine der bisherigen Auseinandersetzungen seit den 1990er Jahren zu einer Lösung geführt hat.

Die EU und die USA müssen ihre konstruktive Rolle bei der Unterstützung der demokratischen Transformation der Staaten des Südkaukasus fortsetzen. Die Länder der Region sollten prüfen, welche stufenweisen Schritte sie unternehmen können, um Vertrauen untereinander aufzubauen. Ein einfacher Schritt wäre, wenn sie eine gemeinsame Task Force zum Austausch ihrer Erfahrungen im Kampf gegen Covid-19, einen gemeinsamen Feind, der keine Grenzen respektiert, einrichten würden. Dies wäre eine sehr geeignete und effektive vertrauensbildende Maßnahme, die die Region dringend braucht.

Der Originalartikel erschien am 1. 4. 2021 unter dem Titel „The South Caucasus at the Crossroads: Great Powers and Regional Conflict“ bei AsiaGlobal Online. Sie können ihn unter diesem Link abrufen. Die deutsche Übersetzung wird hier mit ausdrücklicher Genehmigung des Autoren und des AsiaGloal Institut der Universität Hongkong abgedruckt.

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Russland und China: Spekulationen um Militärbündnis

Ob die russisch-chinesische Partnerschaft in ein offizielles Militärbündnis münden wird oder nicht, bleibt trotz vermehrt aufkommender Anzeichen noch unklar.

Sergej Lawrow und Wang Yi am 23. März 2021 in Guilin (Foto: Außenministerium der Russischen Föderation)

Ein Kommentar von Stephan Ossenkopp

Dass die strategische Antwort Russlands und Chinas auf die Welle von Sanktionen und Provokationen seitens der USA, Großbritanniens, der EU und Organisationen wie der NATO eine weitere Annäherung zwischen der Volksrepublik und der Russischen Föderation sein würde, sollte niemanden verwundern. Doch wird man über die umfassende strategische Partnerschaft noch hinausgehen? Als der russische Außenminister Sergej Lawrow am 23. März mit seinem Amtskollegen Wang Yi zu Verhandlungen in der chinesischen Stadt Guilin zusammentraf, erklärte er, Russlands und Chinas gemeinsame Positionen seien völlig klar: sie verbieten sich die Einmischung in innere Angelegenheiten und weisen das „geopolitische Nullsummenspiel“ und die illegitimen Sanktionen des Westens zurück. Ob die russisch-chinesische Partnerschaft in ein offizielles Militärbündnis münden wird oder nicht, bleibt trotz vermehrt aufkommender Anzeichen noch unklar.

Trenin: Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung

Am Tag des Treffens der beiden Außenminister schrieb der Direktor des Carnegie Moscow Centers, Dmitri Trenin, in einem Artikel in der Tageszeitung China Daily: „ Die Politik der Biden-Administration, die auf der Vorstellung von China als dem Hauptherausforderer der globalen Dominanz der USA und von Russland als einer großen Bedrohung der von den USA geführten Weltordnung beruht, hat es für Moskau und Peking zwingend erforderlich gemacht, in geopolitischen, geoökonomischen und sicherheitspolitischen Fragen noch enger zusammenzuarbeiten.“[1] Während die Supermacht USA ab den 1970er Jahren bis vor wenigen Jahren noch China in das von ihm dominierte liberale Weltsystem eingliedern wollte, nehme sie sich heute beide Mächte, also Russland und China, gleichzeitig vor, so Trenin, da die USA weiterhin an ihrem Weltmachtanspruch, basierend auf ihrer militärischen und politischen Stärke, festhalten würden. Auch wenn Trenin, der wegen seiner ehemaligen Soldatenlaufbahn über reichlich Erfahrung in militärischen Dingen verfügt, keinen russisch-chinesischen Militärblock aus diesem Prozess hervorgehen sieht, würden, so seine Einschätzung, die beiden Länder in Dingen der nationalen Sicherheit und Verteidigungstechnologien nun noch enger zusammenarbeiten. „Die Verbesserung der Kompatibilität und Interoperabilität der russischen und chinesischen Streitkräfte durch häufigere und anspruchsvollere gemeinsame Übungen könnte eine weitere Möglichkeit sein. Da sich die Ansichten Chinas und Russlands über Cyber- und Weltraumsicherheit ziemlich nahe sind, ist eine engere Zusammenarbeit in diesen Bereichen nur zu erwarten. Die jüngste Vereinbarung zwischen Russland und China über ein gemeinsames Mondprogramm weist in diese Richtung,“ so die Einschätzung Trenins, der auch Mitglied in diversen westlichen Denkfabriken, wie beispielsweise beim International Institute for Strategic Studies in London, ist.

Russtrat: Militärbündnis 2021 oder 2022

Das im April 2020 in Moskau gegründete Institut für internationale politische und wirtschaftliche Strategien (Russtrat), dass es sich zur Aufgabe gemacht hat, strategische Ansätze der russischen Außenpolitik zu aufzuzeigen, erwähnte allerdings vor wenigen Wochen ein zwischen Lawrow und Wang am 4. Februar 2021 geführtes Telefongespräch, dessen Wichtigkeit kaum zu überschätzen gewesen sei. Wörtlich sagt Russtrat in seiner Analyse: „Im Rahmen der Neuunterzeichnung des Vertrages über Freundschaft und gute Nachbarschaft, der bald ausläuft, schlug Peking vor, den neuen Vertrag mit richtungsweisendem Inhalt zu füllen, der nicht nur den Wunsch beider Länder widerspiegelt, ihre eigene Sicherheit, die Sicherheit des jeweils anderen, sondern auch die Sicherheit der Nachbarstaaten zu schützen. In der Tat kann man sagen, dass Peking Moskau vorgeschlagen hat, ein offizielles Militärbündnis zu schließen.“[2] Um der Hypothese zusätzliches Gewicht zu verleihen, berichtet das Institut von einer Äußerung, die der russische Präsident Vladimir Putin bereits am 22. Oktober 2020 auf seinem Amtssitz Nowo-Ogarjowo, rund 30 Kilometer westlich des Kremls, getätigt haben soll, worin er im Allgemeinen einer Militärallianz beider Länder zugestimmt haben soll. Dies sei nicht aus heiterem Himmel, sondern als Folge des schon seit 2016 fortschreitenden Prozesses der strategischen Annäherung beider Länder geschehen. Im Presseauszug des Pekinger Außenministeriums heißt es, beide Seiten sollten die Gelegenheit der Erneuerung des russisch-chinesischen Freundschaftsabkommens Anfang Juli 2021 „nutzen, um diesem wichtigen Vertrag neue Dimensionen zu verleihen und eine klare Botschaft an die Welt zu senden, dass die beiden Länder die Sicherheit ihrer selbst und entlang ihrer Peripherie schützen werden.“ Der Freiraum für Deutungen und Spekulationen ist noch zu groß, um Vorhersagen über solch historische Entscheidungen zu treffen – und entsprechend bedeckt hält sich Russtrat auch am Ende seiner Analyse. „Wir können also nicht ausschließen, dass noch in diesem Jahr, spätestens 2022, ein offizielles Militärbündnis zwischen Russland und China geschlossen werden könnte,“ heißt es wörtlich. Russtrat wird von einem Mitglied des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten der Staatsduma der Russischen Föderation (Fraktion „Einiges Russland“), der Wirtschaftsprofessorin Elena Panina, geleitet.

Chinesische Soldaten bei der 70. Siegesparade in Moskau 2015 (Foto: Dmitriy Fomin bei Flickr)

Gemeinsame Verteidigungspolitik

Die außenpolitischen Verbindungen zwischen China und Russland waren im Jahr 2020 dem Vernehmen nach besonders eng. Wang und Lawrow hatten im Jahr 2020 acht Telefonate und zwei Treffen. Russland sei im vergangenen Jahr trotz der globalen Pandemie das von hochrangigen chinesischen Delegationen am häufigsten besuchte Land gewesen. Dazu gehörte vor allem auch der gemeinsam begangene 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Die Delegation Chinas mit dem Verteidigungsminister Wie Fenghe an der Spitze und die Ehrenwache-Kompanie nahmen an der Parade auf dem Roten Platz am 24. Juni 2020 teil. Das wusste Russland ganz besonders zu schätzen. Russisch-chinesische Militärübungen sind eigentlich nichts prinzipiell Neues. Sie finden regelmäßig im Rahmen der Zusammenarbeit bei der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), aber auch im bilateralen Format statt. Auch die Kampfbereitschaft von Luftstreitkräften, die die Sicherheit der Grenzen der Russischen Föderation und der Volksrepublik gewährleisten sollen, wurden bereits gemeinsam abgehalten, vor allem weil beide Staaten, sowohl China als auch Russland, durch die Pläne der USA, in Japan und in Südkorea Raketenabwehrsysteme und bodengestützte Mittel- und Kurzstreckenraketen zu stationieren, in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden waren.

Scheitern die Indo-Pazifik Strategien?

Die derzeitige Hauptstrategie der Biden-Administration ist es, den Einfluss Chinas aus dem Indo-Pazifik zurückzudrängen und eine pro-transatlantische, gegen China gerichtete, Allianz zu schmieden, die der Vorherrschaft amerikanischer Interessen im wirtschaftlich und strategisch wichtigsten Raum dient. Diese Politik wurde von der Trump-Administration unter dem „U.S. Strategic Framework for The Indo-Pacific“ begonnen[3], und wird nahtlos durch die neue US-Regierung fortgesetzt.[4] Der Leiter des im Nationalen Sicherheitsrat zuständigen Teams, Kurt Campbell, ist der ursprüngliche Architekt von Obamas „Pivot to Asia“-Politik, die den Stein der Anti-China Politik in der Region ins Rollen brachte. Heute sind auch Deutschland mit seinen „Leitlinien zum Indo-Pazifik“[5] und Großbritannien mit der „New UK Strategy in The Indo-Pacific Region“[6] mit im Boot. Doch gerade wenn China und Russland immer enger kooperieren, wird die amerikanische Strategie zur sprichwörtlichen Quadratur des Kreisen. Ein Grund dafür ist, dass Russland „ein Freund von Indien“ ist, wie Lawrow kurz vor Bidens Amtsantritt nochmals betonte, von Indien, dass die USA in erster Linie gegen China positionieren wollen. „Wir tun unser Bestes, um zu garantieren, dass Indien und China – zwei unserer großen Freunde und Brüder – miteinander in Frieden leben,“ so fasste Lawrow die russische Haltung zusammen. Nicht nur im Kontext der erwähnten SOZ, zu deren acht Mitgliedern China, Indien, Russland und Pakistan gehören, sondern auch bei den BRICS-Ländern und dem speziellen dreiseitigen RIC-Format – Russland, China und Indien – bemüht man sich aktiv um die Aufrechterhaltung der friedlichen Kooperation und der Stabilität in Asien und der ganzen Welt. Mit Japan pflegt Russland ebenfalls freundschaftliche Verbindungen, so dass die Aussichten für die Biden-Regierung, ein klares Bekenntnis ihrer „Wertepartner“ im Indo-Pazifik, sich gegen China und Russland zu positionieren, nicht ohne Stolpersteine ist. Und die eine Fregatte der deutschen Marine, die Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in den Indo-Pazifik entsendet, stellt sicherlich nicht das Zünglein an der Waage dar. An diesen Realitäten kommen noch so viele Strategiepapiere nicht vorbei.


[1] http://global.chinadaily.com.cn/a/202103/23/WS605954bca31024ad0bab0f1d.html

[2] https://russtrat.ru/en/comments_/9-february-2021-1355-2959

[3] https://www.councilpacificaffairs.org/initiatives/u-s-strategic-framework-for-the-indo-pacific/

[4] https://asia.nikkei.com/Politics/International-relations/Biden-s-Asia-policy/Biden-s-Indo-Pacific-team-largest-in-National-Security-Council

[5] https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2380500/33f978a9d4f511942c241eb4602086c1/200901-indo-pazifik-leitlinien–1–data.pdf

[6] https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2380500/33f978a9d4f511942c241eb4602086c1/200901-indo-pazifik-leitlinien–1–data.pdf

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Andrew Korybko: Amerika tritt in Afghanistan in Russlands diplomatische Fußstapfen

US-Außenminister Blinken bei einer Rede am 3. März 2021 (Foto: U.S. Department of State)

Zur Person: Andrew Korybko ist ein politischer Analyst, Journalist und regelmäßiger Mitarbeiter mehrerer Online-Zeitschriften sowie Mitglied des Expertenrats des Instituts für strategische Studien und Prognosen an der Universität der Völkerfreundschaft in Russland. Er ist spezialisiert auf russische Angelegenheiten und Geopolitik, insbesondere auf die US-Strategie in Eurasien. Zu seinen weiteren Schwerpunkten gehören Taktiken des Regimewechsels, Farbrevolutionen und unkonventionelle Kriegsführung, die in der ganzen Welt eingesetzt werden.

Der neue Ansatz des US-Sondergesandten für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, zur Beilegung des Afghanistankrieges folgt den diplomatischen Fußstapfen Russlands, indem er die Bildung einer inklusiven Regierung zwischen Kabul und den Taliban anregt und Indien als offizielle Partei in die internationalen Gespräche zu diesem Thema einbezieht, obwohl er auch eine Neuerung gegenüber dem Moskauer Lösungsvorschlag darstellt, indem er vorschlägt, dass die Türkei in der kommenden Zeit Gastgeber solcher Verhandlungen sein sollte.

Ende letzten Monats sorgte Präsident Putins Sondergesandter für Afghanistan, Zamir Kabulov, für Schlagzeilen, nachdem er die Bildung einer inklusiven Übergangskoalitionsregierung in Afghanistan zwischen Kabul und den Taliban vorgeschlagen hatte. Die USA folgen nun offiziell den diplomatischen Fußstapfen Moskaus, nachdem ihr eigener Sondergesandter Zalmay Khalilzad einen Brief[1] von Außenminister Blinken an die führenden Politiker des Landes weitergegeben hat, in dem dieselbe Lösung vorgeschlagen wird.[2] Ich habe den russischen Ansatz ausführlich in meiner damaligen Analyse über „How Russia’s Special Afghan Envoy Wants To Save The Struggling Peace Process“[3] erläutert, die der Leser lesen sollte, um ein solideres Verständnis der sich entwickelnden Position der Großmacht gegenüber dem Konflikt zu erhalten. Die USA scheinen erkannt zu haben, dass dieser Ausgang unausweichlich ist, und haben daher beschlossen, Russland in gewissem Maße den Wind aus den diplomatischen Segeln zu nehmen, indem sie versuchen, die Führung in diesem politischen Prozess zu übernehmen. Darüber hinaus folgt Amerika dem Beispiel Russlands, indem es Indien als offizielle Partei in die internationalen Gespräche zu diesem Thema einbezieht und gleichzeitig seinen Lösungsvorschlag erneuert, indem es vorschlägt[4], dass die Türkei solche Verhandlungen in der kommenden Zukunft ausrichtet.

Neu-Delhi wurde bereits eingeladen, am Moskauer Friedensprozess teilzunehmen, aber diese Gesprächsrunde konnte nie so wichtig sein wie alles, was Washington anführt, allein aufgrund der Tatsache, dass Amerika die größte ausländische Militärmacht in Afghanistan behält. Obwohl die USA die Gespräche in der russischen Hauptstadt beobachteten, nahmen sie nicht aktiv an ihnen teil, obwohl sie anscheinend genug gelernt haben, um zu erkennen, dass es im großen strategischen Interesse des Landes liegt, sicherzustellen, dass Indien nicht von der neuesten Runde ausgeschlossen wird, die die Türkei ausrichten soll. Dies lässt sich mit den Bemühungen der USA erklären, Indien im Neuen Kalten Krieg[5] gegen China weiterhin auf ihre Seite zu ziehen, was für sie umso dringlicher ist, nachdem Neu-Delhi und Peking im letzten Monat einer synchronisierten Deeskalation[6] entlang der Line of Actual Control (LAC) zugestimmt haben. In meiner damaligen Analyse „How India’s Regional Strategy Is Adapting To The Post-Trump Reality“[7] (Wie sich Indiens regionale Strategie an die Post-Trump-Realität anpasst) führte ich dies auf die Unsicherheit Neu-Delhis über die von Washington anvisierte geostrategische Rolle unter der Biden-Administration zurück, die aus der Sorge um die Auswirkungen einer möglichen amerikanisch-chinesischen Entspannung und den wiederholten Drohungen[8] resultierte, den südasiatischen Staat wegen seiner Entscheidung, russische S-400-Systeme zu kaufen, zu sanktionieren.

Der diplomatische Elefant im Raum ist zweifellos der globale Dreh- und Angelpunkt Pakistan[9], dessen konsequent pragmatischer Ansatz zur Lösung des Konflikts durch die Einbeziehung der Taliban als legitime politische Partei in die Konfliktlösung (trotz ihrer offiziellen Einstufung als Terrorgruppe durch Länder wie die USA und Russland) letztendlich von allen unterstützt wurde, außer von Indien und dem Iran[10], die beide eine Geschichte ernsthafter Probleme mit der Gruppe haben. Nichtsdestotrotz sind diese beiden durch diplomatische Trägheit gezwungen, sich den Ereignissen anzuschließen, ob es ihnen gefällt oder nicht, obwohl die USA nicht wollen, dass sie sich ausgeschlossen fühlen, weil sie die politischen Konsequenzen fürchten, die dieser Eindruck auf Indiens anti-chinesische Quad-Aktivitäten und den jüngsten Vorstoß zur Wiederbelebung des iranischen Atomabkommens haben könnte. Washington weiß auch, wie empfindlich Neu-Delhi und Teheran auf die Optik reagieren, dass Islamabad die ganze Zeit über Recht hatte und ausgerechnet Moskau zu seinem konsequent pragmatischen Ansatz bei der Lösung dieses Konflikts bewogen hat. Es sind auch indirektere Motive im Spiel, die mit der Zentralasienstrategie zu tun haben, die die Biden-Administration von Trump geerbt hat.

Ich habe dies letztes Jahr in meinem Beitrag „The US‘ Central Asian Strategy Isn’t Sinister, But That Doesn’t Mean It’ll Succeed“[11] analysiert, in dem ich erklärte, wie Amerika die Option der „Wirtschaftsdiplomatie“ erkundet, um seinen Einfluss nach dem Rückzug aus dem eurasischen Kernland zu sichern. Es strebt nicht nur danach, die N-CPEC+ als Mittel zur Stärkung seiner Rolle in der Region zu nutzen, sondern hofft auch, dass der östliche Zweig des indischen Nord-Süd-Transportkorridors (NSTC) durch den Iran nach Afghanistan und in die zentralasiatischen Republiken dazu führen kann, dass Neu-Delhi anschließend ein Gegengewicht zu Moskaus und Pekings Einfluss dort bildet. Dies erklärt, warum die USA Indien für sein Hafenprojekt Chabahar stets einen Sanktionsverzicht gewährt haben. Es verleiht auch der schriftlichen Ankündigung Blinkens, dass die Türkei in nächster Zeit Afghanistan-Gespräche führen wird, eine neue strategische Dimension. Washington hat ein Interesse daran, dass der Lapis-Lazuli-Korridor von Afghanistan über Turkmenistan, das Kaspische Meer, Aserbaidschan und die Türkei in die EU fertiggestellt wird, um den türkischen und europäischen Einfluss in eben diesem Raum zu geostrategischen „Ausgleichszwecken“ auszuweiten.

Um es ganz klar zu sagen: Weder Pakistan, Indien, Iran noch die Türkei haben die Absicht, ihren Einfluss in Zentralasien über ihre jeweiligen „Wirtschaftsdiplomatie“-Initiativen N-CPEC+, den östlichen Zweig der NSTC und den Lapis-Lazuli-Korridor in einer „unfreundlichen“ Art und Weise auszuweiten, die den strategischen Zielen Russlands und/oder Chinas dort zuwiderläuft, aber der unvermeidliche kumulative Effekt, dass sich mehr Länder im eurasischen Kernland engagieren, wird letztlich zu einem größeren „Gleichgewicht“ der Interessen dort führen. Alle relevanten Parteien mit Ausnahme Indiens unterstützen den Vorschlag des Goldenen Rings, den ich in meiner Analyse vom März 2018, „From ‚Bandwagoning‘ Against Eurasia To ‚Circling The Wagons‘ In The Center Of It“[12], näher erläutert habe, aber diese ehrgeizige Vision erfordert natürlich eine sehr enge Abstimmung zwischen allen Beteiligten, die noch einige Zeit in Anspruch nehmen könnte. In der Zwischenzeit hoffen die USA, dass sie die „aufkommende Dynamik“ eines „natürlichen (wenn auch ‚freundlichen‘) Wettbewerbs“ fördern und damit dieses Szenario ausgleichen können, insbesondere in Bezug auf die Ausnutzung des gegenseitigen strategischen Misstrauens zwischen China und Indien und vielleicht sogar in geringerem Maße zwischen Iran und der Türkei.

Es wird für Beobachter sehr interessant sein zu beobachten, wie sich Amerikas jüngste diplomatische Initiativen in Afghanistan entwickeln werden, insbesondere sein Vorstoß, die Taliban in eine inklusive Regierung einzubinden, sowie die Ermutigung der USA, Indien und die Türkei in diesem Gesamtprozess eine größere Rolle spielen zu lassen, aber es darf nicht vergessen werden, dass Washington im Grunde in Moskaus Fußstapfen tritt, wenn es um diese politische Lösung geht. Es war Russlands stillschweigende Zustimmung zu Pakistans konsequent pragmatischer Haltung, die Taliban trotz ihrer Einstufung als Terrororganisation als legitime Partei in den Friedensprozess einzubeziehen, die die USA zu einer Änderung ihrer Position veranlasste, ebenso wie Moskaus Unterstützung der Beteiligung Neu-Delhis an all dem. Das türkische Element ist eine einzigartige Wendung, die nicht vorhergesehen wurde, aber dennoch mit Amerikas angestrebter „Wirtschaftsdiplomatie“ gegenüber der Nachkriegsregion übereinstimmt. Das ideale Ergebnis wäre die friedliche Etablierung einer gemeinsamen Kabul-Taliban-Regierung (zumindest vorläufig), parallel zu greifbaren Fortschritten beim Bau des Goldenen Rings, so dass auch Indien dabei eine konstruktive Rolle spielen könnte, aber das tatsächliche Ergebnis wird wahrscheinlich viel komplexer sein als das.


[1] https://twitter.com/TOLOnews/status/1368523273114419203

[2] https://www.aljazeera.com/news/2021/3/7/blinken-proposes-plan-to-accelerate-peace-process-in-afghanistan 

[3] https://tribune.com.pk/article/97306/how-russias-special-afghan-envoy-wants-to-save-the-struggling-peace-process

[4] https://www.dailysabah.com/politics/diplomacy/us-to-ask-turkey-to-host-intra-afghan-peace-talks

[5] https://www.geopolitica.ru/en/article/21st-century-geopolitics-multipolar-world-order

[6] https://news.cgtn.com/news/2021-02-13/China-India-synchronized-border-disengagement-positive-development-XQsdmR7tks/index.html

[7] https://tribune.com.pk/article/97313/how-indias-regional-strategy-is-adapting-to-the-post-trump-reality

[8] https://tribune.com.pk/article/97267/the-future-of-us-indian-relations-depends-on-new-delhis-s-400-decision

[9] https://www.globalresearch.ca/pakistan-the-global-pivot-state/5668621

[10] https://oneworld.press/?module=articles&action=view&id=1348

[11] https://oneworld.press/?module=articles&action=view&id=1312

[12] https://orientalreview.org/2018/03/31/from-bandwagoning-against-eurasia-to-circling-the-wagons-in-the-center-of-it/

Das englische Original “America’s Following In Russia’s Diplomatic Footsteps In Afghanistan” erschien am 9. März 2021 auf der Webseite OneWorld.press. Alle Links sind vom Originaltext übernommen worden. Für deren Inhalte ist ausschließlich der Autor verantwortlich.

Uwe Leuschner: Die Neue Seidenstraße ist nicht mehr zu stoppen

Logistik-Experte Uwe Leuschner: der Eurasische Korridor (Neue Seidenstraße) hat Perspektive und ist nicht mehr zu stoppen.

Uwe Leuschner und Stephan Ossenkopp während des Online-Gesprächs / Foto: Screenshot)

Zur Person: Uwe Leuschner ist Spezialist für Eurasische Wirtschaftskorridore und seit Nov. 2011 Mitglied im Vorstand des Wirtschaftsclub Russland e.V. mit Standorten in Berlin und Moskau. Bis vor kurzem war Leuschner beim internationalen Transport- und Logistikunternehmen DB Cargo (ehemals DB Schenker Rail) beschäftigt, und zwar als Geschäftsführer der DB Cargo Eurasia GmbH, General Manager der DB Cargo Russia, und zuletzt als Senior Vice President Business Development Eurasia der DB Cargo AG an den Standorten Moskau, Berlin und Frankfurt.

Ossenkopp: Als die Sanktionen gegen die Nord Stream 2 Pipeline in Gang gebracht wurden, gab es in Deutschland zunächst eine heftige Gegenreaktion. „Wir lassen uns nicht bevormunden!“, hieß es oft. Doch das ist ziemlich aufgeweicht. Im Bundestag waren sich bis auf wenige Ausnahmen alle einig, da müsse jetzt ein Moratorium kommen, oder das Projekt müsse man ganz stoppen. Gehen die deutschen und europäischen Unternehmen von dem Stopp des Projekts aus? Oder denken die, die Risse lassen sich doch noch kitten?

Das muss man die Unternehmen direkt fragen. Dafür bin ich zu weit weg, obwohl ich die, die dabei sind, ja kenne. Erstens ist es wirklich ein privates Projekt, auch wenn man versucht, Gazprom abzusprechen, dass es ein privates Unternehmen ist. Das ist dann wieder eine Definitionsfrage, aus der man eine Ideologie gemacht hat. Aber um auf mein Bild vom Anfang zurückzukommen: Konnektivität schließt auch Pipelines mit ein. Eine Pipeline zu haben ist immer besser, als keine zu haben. Wenn es geplant ist, Gas durchzuschicken, dann ist das die Voraussetzung, um irgendwann mal Wasserstoff oder andere Dinge zurückzuschicken, die wir in einer immer energiebedürftigeren Gesellschaft natürlich immer brauchen. Wir wissen selber, wir haben in Europa nur beschränkte Möglichkeiten, wenn wir auf Kohle und Atomkraft verzichten. Das sieht man gerade dann, wenn es schneit und kalt ist. Die Windräder frieren ein und vereisen, und die Solarzellen sind voller Schnee. Vielleicht werden in Zukunft die Solarzellen früher gereinigt als die Autobahnen und Straßen. Es ist keine Lösung, wenn man es ablehnt.

Natürlich gibt es auch monopolistische Interessen, die Russland auf dem Energiesektor hat, was mit dem Budget der Russischen Föderation zu tun hat, das man zu lange nur auf die Rohstoffe ausgerichtet hat, aber das ist ja überhaupt nicht der Hintergrund von Nord Stream 2. Nord Stream 2 ist ein schönes Beispiel, das man benutzt, um die globale Interessensvielfalt zwischen Amerika und Russland und Asien in irgendeiner Weise in Europa fortzuführen. Und selbst die Argumentation, dass die Ukraine damit benachteiligt oder geschädigt wird, das ist ja zumindest eine Argumentation auf der Basis der bestehenden Verträge, die es dazu gibt, was die ukrainischen Pipelines betrifft, die ja weitergeführt und auch modernisiert werden sollen – was dazu eigentlich im Widerspruch steht, dass man das alles gemeinsam in irgendeiner Art und Weise entwickelt. Aber die Voraussetzungen, ob wir Investitionen in der Ukraine tätigen, sind sehr spezifisch. Man hat leider Gottes schon mit dem Ende der Sowjetunion versucht, die Interessen der ehemaligen Sowjetrepubliken – ein Thema, das bis heute nicht gelöst ist – auseinander zu dividieren. Das macht man nach wie vor. Die Frage des Zugangs zum Schwarzen Meer aus militärischer Sicht ist für Russland natürlich nicht verhandelbar. Der Ukraine-Konflikt läuft jetzt zugespitzt seit 2014. Das ist länger als der Zweite Weltkrieg. Es gibt eigentlich kein politisches Konzept, diesen Konflikt zu beenden, denn wenn man ihn beenden wollte, müsste man wieder Interessensgruppen in ihre Schranken weisen, und dafür gibt es zurzeit niemanden.

Ossenkopp: Ich möchte das Thema der Neuen Seidenstraße ansprechen, denn dafür haben Sie mit dem Wirtschaftsclub Russland in der Öffentlichkeit viel getan, und Sie haben auch Pionierarbeit mit DB Cargo und der Russischen Bahn geleistet. Wie sieht die Vorgeschichte aus?

Leuschner: Ich bin seit 2011 eigentlich sehr stark involviert in die Entwicklung der Containerverkehre auf dem Korridor zwischen China und Europa. Natürlich hat mich meine Arbeit bei der DB – also zuerst bei DB Schenker und dann bei DB Cargo – sehr eng in dieses Projekt hineingebracht. Ich bin heute nach wie vor begeistert von diesem Projekt. Und entgegen aller Unkenrufe hat sich dieser Landverkehr zwischen Asien und Europa inzwischen zu etwas entwickelt, was eine wirkliche und echte Perspektive hat. Erstens einmal ist es günstiger als die Flugverbindungen, also die Luftfracht; zweitens ist es viel sauberer als irgendwelche Transportwege übers Meer mit diesen großen Schiffen, und damit als grünes, ökologisches Transportmittel sehr attraktiv; und drittens ist ein Projekt von Industrieentwicklung und Wirtschaftskooperation. Es ist wie eine Blutbahn, an der sich Produktion, Handel und Zivilgesellschaft ansiedeln kann. Die zehn oder elf Jahre, in denen das jetzt aktiv sichtbar geworden ist, zeigen eigentlich von Jahr zu Jahr immer nach oben. Wir haben 2020 ungefähr 540.000 Container mit Europa auf der Schiene gefahren, also damit meine ich wir und viele andere. Es gibt inzwischen 60 verschiedene Ziele in Europa und in China, das heißt, die Anzahl der Destinationen vergrößert sich, die Produktpalette erweitert sich. Die Corona-Krise hat dabei in diesem Falle noch sehr maßgeblich für Wachstum gesorgt, denn wir hatten im Jahr 2020 ein Wachstum von ungefähr 50 Prozent.

Die andere Seite davon ist – und da wird eben auch vieles falsch interpretiert: auch das ist eine logische Folge, die getrieben ist von wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Interessen aus dem Markt heraus, denn sonst hätte es dieses Produkt nie gegeben. Die ersten Containerzüge sind 1992 vom Hafen Lianyungang[1] in China in Richtung Europa gegangen. Weder der eine noch der andere, der es sich anmäßen wollte, auch nicht in der Politik Herr Xi oder Herr Putin, sind die Auslöser dafür gewesen; sondern es ist der Markt, und es ist die Fähigkeit, dass sich Menschen aus verschiedenen Ländern – vor allem die Chinesen, aber auch die Kasachen, die Mongolen, die Russen, die Weißrussen, die Polen und auch wir Deutsche sich dem gewidmet haben und daraus Angebote gestaltet haben, die eben nur miteinander funktionieren in einer „kleinster gemeinsamer Nenner“-Entwicklung, mit immer stärkeren und immer besseren Produkten. Natürlich gibt es zwei Seiten: die eine Seite ist der Markt, der so etwas anfragt – „Wer braucht so etwas?“; die zweite Seite, das sind die infrastrukturellen Voraussetzungen, die natürlich eine Menge Geld kosten. Für mich ist der Korridor ein absolutes Beispiel von einer sich erfolgreich entwickelnden Marktstrategie in einer globalisierten Welt. Die Logistik verbindet an vielen Stellen Produktion und Handel, und Strukturen in der Wirtschaft. Dieses Produkt, sich auf dem Landwege des Austauschs zu bedienen, hat Perspektive.

Es gibt einen weiteren Punkt. Wenn wir die Geschichte anschauen, sehen wir, dass vor 200 Jahren die industrielle Revolution in Europa sehr an die Eisenbahn gekoppelt war. Seit es Eisenbahnen gab, hat sich Schwerindustrie und Industrie überhaupt in den Ballungsräumen Europas entwickelt. Die Eisenbahn und das Netz der Schienenverbindungen war die Voraussetzung für vielfältigste Produktionsentwicklungen und Innovation innerhalb der europäischen Industriegesellschaft. Wenn wir nach Russland schauen, dass gab es das im europäischen Teil Russlands, aber vor allem, durch die militärischen Notwendigkeiten und Interessen geprägt, mit den Verbindungen nach Fernost über die Trans-Sibirische Eisenbahn oder die Baikal-Amur-Magistrale. Das war dann so ein Ausflügler in Richtung ferne Regionen, die man auch versorgen wollte und musste. Aber mit der Entwicklung um China – die ging ja so los in den 1980er Jahren mit Deng Xiaoping – hat sich in China, und dann auch weiter über die Grenzen Chinas hinaus, ein sehr modernes Eisenbahnnetz in Asien entwickelt. Das ist viel moderner und auch viel innovativer gestaltet. Und der Korridor macht nichts anderes als im Prinzip diese zwei Industrieregionen per Schiene zu verbinden, und damit diese beiden Eisenbahnnetze zu verbinden. Dies ist das eigentliche Potenzial, was darin steckt.

Wo man heute 10.000 Kilometer geradeaus fährt durch Taiga und Tundra, durch Wüste, Berge und Tiefebenen, mit Containern, die auf- und abzuladen sind, wird man in Zukunft eigentlich viel mehr Hubs entlang dieses Korridors gestalten – und damit eine Verquickung von Möglichkeiten, die in E-Commerce liegt, die für die Automobilindustrie in Zukunft Standortfragen ganz neu definieren könnte und sicherlich auch wird; die aber irgendwo auch damit zusammenhängt, wie man in einer auf Klimaschutz und CO2-Neutralität ausgerichteten zukünftigen Verknüpfung bestimmter Industrien reagieren kann und die Möglichkeiten dort erschließt, wo sie vorhanden sind. Das ist meistens nicht dort, wo Ballungsräume sind, wie wir sie heute sowohl in China, als auch in Europa kennen, sondern die liegen auf dem Weg. Diese Korridor-Funktion ist enorm spannend. Dort mitzumachen – bei allen Konflikten, die es dort gibt durch die unterschiedlichen Systeme: hier staatsmonopolistische Betrachtung und Entscheidungsfindung, dort privatwirtschaftliche, liberalisierte Märkte, Logistikkonzepte mit ausgeklügelten IT-Lösungen etc. – und dies auf ein gemeinsames Niveau zu bringen und somit auch gemeinsam an Technologien zu arbeiten, die im Prinzip jedem zugutekommen. Ich bin davon überzeugt, wir sind nach wie vor am Anfang, aber der Weg dahin ist nicht mehr zu stoppen, sondern wird weitergehen.

[1] Der Hafen der Stadt Lianyungang, die an der chinesischen Ostküste zum Gelben Meer hin gelegen ist, gehört zu den zehn größten Häfen Chinas.

Dies ist der zweite Teil eines mehrteiligen Interviews. Im ersten Teil ging es vor allem um die Europäisch-Russischen Beziehungen.

Uwe Leuschner: Ich bin besorgt um die Beziehungen zwischen der EU und Russland

Der Logistik-Experte Uwe Leuschner glaubt, dass die eisigen Zeiten zwischen der EU und Russland in den Wirtschaftsbeziehungen leider andauern werden.

Uwe Leuschner während des Online-Gesprächs / Foto: Screenshot)

Zur Person: Uwe Leuschner ist Spezialist für Eurasische Wirtschaftskorridore und seit Nov. 2011 Mitglied im Vorstand des Wirtschaftsclub Russland e.V. mit Standorten in Berlin und Moskau. Bis vor kurzem war Leuschner beim internationalen Transport- und Logistikunternehmen DB Cargo (ehemals DB Schenker Rail) beschäftigt, und zwar als Geschäftsführer der DB Cargo Eurasia GmbH, General Manager der DB Cargo Russia, und zuletzt als Senior Vice President Business Development Eurasia der DB Cargo AG an den Standorten Moskau, Berlin und Frankfurt.

Stephan Ossenkopp (auf das Hintergrundbild anspielend): Sie haben aber eine interessante Hintergrundgrafik gewählt.

Uwe Leuschner: Einer meiner Grundpfeiler, um „Eurasia“ oder „Corridor“ zu erklären, ist, dass ich sage: wir müssen einfach begreifen, eine neue Geographie in unsere Köpfe zu kriegen. Die Geographie, die wir in unserer Generation mal gelernt haben, war: da gibt es links Amerika, in der Mitte Europa und rechts gibt es Asien, und da ist ein großer Ozean dazwischen, den aber niemand verschiebt. Das zweite, was wir gelernt haben, das war die politische Karte: da gibt es die roten, die blauen, die braunen, die grünen und die gelben Länder. Auch das kriegen wir nicht aus den Köpfen weg, denn wir wollen ja politisch korrekt sein, und Grenzen sind unantastbar. Deshalb müssen wir heute lernen, was „konnektive Geografie“ ist, das sind Internetkabel, Flugverbindungen, Straßen- und Schienenverbindungen, also alles, was diese Welt miteinander verbindet und wo es keine Grenzen mehr zu sehen gibt. Es gibt dazu einige Karten, die findet man im Internet, aber die sind nicht so populär.

Ossenkopp: Diese Konnektivitäts-Geografie ist sicherlich nicht in jedermanns Kopf. Wie würden Sie die beschreiben?

Leuschner: Es sind einfach Verbindungen. Es sind Kabel, es sind Verbindungen von Menschen, von Wirtschaftsgebieten, Regionen, von Kulturen, auf unterschiedlichen Ebenen, über Kommunikation, über Transportlinien und -wege für Menschen und Güter. Natürlich sind es auch Energieverbindungen, also Pipelines, Elektrotrassen und Energieverbreitungstrassen. Das, was im Leben auf dieser Welt eine Rolle spielt, das ist Kommunikation, das ist Mobilität und das ist Energieübertragung. Darum geht es eigentlich. Alles andere ist viel heiße Luft um viel Nichtwissen herum.

Ossenkopp: Diese Konnektivität ist natürlich explosiv angestiegen mit den technologischen Erfindungen der letzten hundert und mehr Jahre.

Leuschner: Die ist objektiv. Auf dieser Erde ist es eigentlich egal, wer wo ist. Das Internet hat es eigentlich vergegenständlicht, dass wir heute, egal wo, immer in Verbindung stehen können. Und das verbindet sie, denn diese Erde wird ja bewohnt von Menschen, und nicht von irgendwelchen Nachrichten oder von irgendwelchen toten Gegenständen.

Ossenkopp: Es gibt ja einige, die wollen diese Verbindungen auftrennen. Dies fußt überwiegend auf einer politischen Ideologie, die man im Falle von USA-China auch Decoupling, oder Abkopplung, nennt. Das stößt aber an die physikalische Realität. Die Vernetzungen lassen sich doch nicht einfach so durchschneiden.

Leuschner: Es geht natürlich immer um Interessen. Diese Interessen sind alt und vielleicht an manchen Stellen komplex verquickt und nicht immer sofort zu erkennen. Sie sind aber trotzdem da und sie sind noch nachvollziehbar. Menschen verhalten sich aus Interessen. Es war für mich sehr interessant, dass die Österreicher in ihrem eigenen Land nach Tirol eine Grenze ziehen, weil dort in Tirol in der Regierung Leute sitzen, die für die Schwebebahn und das gesamte Management in den Winterferien zuständig sind. Und die haben das Sagen, und sie wollen trotz Corona den Laden nicht dicht machen. Also, es ist so absurd, wo es schlichtweg nur um Gewinne und Kapitalismus geht, und um die verquickten Interessen dahinter, und wo dann das große Ganze an zwei oder drei Leuten hängt, die sagen: „Wir reden zwar schön drüber, aber wir tun etwas anderes“.

Ossenkopp: Wie ist denn vom Standpunkt eines erfahrenen Wirtschaftsverbandsmanagers, also jemand, der sich in vielen Ländern – Russland, Osteuropa, China – auskennt, die aktuelle Lage der russisch-europäischen Beziehungen?

Leuschner: Ich sage ganz ehrlich: ich bin besorgt. Ich habe gerade erfahren – ich kann das mal vorlesen: „Russland ist auf einen Abbruch der Beziehungen mit der Europäischen Union vorbereitet, erklärt Russlands Chefdiplomat Lawrow in einem Interview mit dem Russischen Journalisten Vladimir Solowjow. Einen möglichen Auslöser für einen solchen Abbruch der Beziehungen sieht Lawrow in weiteren Aktionen seitens der EU, die Russlands Wirtschaft weiter schädigen können. Der Außenminister merkte an, dass Russland im militärischen Bereich bereits völlig autark ist, und dass dieselbe Situation auch für seine Wirtschaft anzustreben gilt. Auf die Frage, ob Russland auf einen Beziehungsabbruch mit der EU zuschreite, antwortete Lawrow: ‚Gehen wir davon aus, dass wir bereit sind, in dem Fall, dass wir sehen, dass auf irgendwelchen Gebieten Sanktionen verhängt werden, die unserer Wirtschaft weiteren Risiken aussetzt, auch in den empfindlichsten Bereichen, dann ja. Wir wollen uns nicht vom globalen Leben isolieren, aber man muss darauf vorbereitet sein: wer Frieden will, der rüstet sich zum Krieg.’“

Das sind Worte von einem russischen Außenminister, die hat man seit Jahrzehnten nicht gehört. Sie sind auf der einen Seite eine Aktion, auf der anderen Seite natürlich eine Reaktion. Und dieses gesamte Bild, das zieht sich ja auch durch wirtschaftliche Kreise. Viele deutsche Unternehmen, die in Russland immer ausgeharrt haben und alle Krisen der letzten zwanzig Jahre nicht zum Anlass genommen haben, sich aus Russland raus und wieder zurück zu orientieren, die denken heute darüber nach, ob ihr Engagement wirklich für die Zukunft sinnvoll ist. Schlussendlich geht es darum, kein Geld zu verlieren und irgendwie auch etwas zu gewinnen und in einer zielstrebigen Kooperation für sich selber, also für den Markt, etwas Positives zu erzielen. Diese Bedingungen sind von diesem politischen Konfliktdenken und -handeln der Politiker stark beeinflusst. Und ich befürchte, die EU, die ja nach wie vor keinen einheitlichen Kurs hat, wird versuchen, den Amerikanern wieder zu gefallen – und den Amerikanern gefallen heißt, sich von Russland abzugrenzen. Das ist eine riesengroße Gefahr. Das hat auch etwas mit kultureller Geschichte zu tun – auch das Verhältnis der Russen zu den Chinesen ist sehr – nicht unbedingt belastet, aber ich sage mal – beeinflusst davon, dass es sich nicht schnell so herausbildet, wie es sich der eine oder andere gedacht oder es sich gewünscht hat. Im Prinzip sind wir aktuell in einer Situation, wo sich die Chinesen isolieren und sich die Russen isolieren, wo wir in Europa aber immer noch nicht so richtig wissen, was wir eigentlich wollen. Die Krise des Liberalismus in Amerika und auch in Europa zeigt, dass dieser Findungsprozess kein schneller ist. Damit glaube ich, dass die eisigen Zeiten für die kommenden Monate oder Jahre wahrscheinlich leider Gottes andauern.

Ossenkopp: Ist das Umdenken bei den deutschen Unternehmen einfach wegen der Länge der sich hinziehenden Sanktionen und Spannungen umgeschlagen, oder gab es einen bestimmten Bruchpunkt?

Leuschner: Die Sanktionen gibt es seit 2014, und sie sind ja eigentlich zwischen den Unternehmen, die immer noch aktiv sind, bewältigt. Aber das, was mit Corona entstanden ist, ist eine Situation, wo auch deutsche Geschäftsleute nicht mehr nach Russland fahren können. Das heißt, es gibt ja im Prinzip einen kompletten Boykott, unter welchem Deckmantel auch immer. Geschäftsbeziehungen halten sich nur über Menschen und über Vertrauen, das die Menschen miteinander aufbauen oder sich sichern oder haben. Wenn über Monate, vielleicht sogar Jahre, dieser Kontakt ausgesetzt wird – wenn man sagt, man macht es nur noch im online-Format – dann ist das nicht gerade etwas, was die Dinge nach vorne bringt und wo sie sich bestmöglich auf einem gewissen Stand beibehalten oder fortführen lassen. Irgendwann wackelt oder bricht die Substanz. Keine internationalen Unternehmen haben die Chance, zu einer Messe nach Russland zu fahren, oder sich in den Regionen um viele programmatische Ansätze zu kümmern mit wirklichen progressiven und guten Angeboten, denn die werden gar nicht mehr bekannt. Es gibt zwar die Botschaft oder die Außenhandelskammern, aber das ist ja keine – Entschuldigung – realwirtschaftliche Prozessführung, um Geschäfte zu machen, sondern eigentlich nur um Investitionen wieder auf den Weg zu bringen in Richtung Russland trotz aller Sanktionen. Aber nur von der realen Wirtschaft lebt so ein Kreislauf und jeglicher Austausch, und der ist sehr stark beeinträchtigt.

Dies ist der erste eines mehrteiligen Interviews. Im zweiten Teil geht es unter anderem um die Neue Seidenstraße / Eurasische Landbrücke.

Traurige Nachrichten aus der Ukraine

Stepan Bandera Fackelzug in Kiew aus Anlass seines Geburtstages am 1. Januar 2020. (Foto: Андрій Бондаренко / Flickr)

Ein Kommentar von von Dr. Christian Müller.

Zum Autor: Dr. Christian Müller ist ein Schweizer Staatsrechtler, Journalist und international tätiger Verlagsunternehmer.

Vor wenigen Tagen hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mit einem eigenmächtigen Federstrich die drei privaten ukrainischen Fernsehstationen NewsOne, 112 und ZIK geschlossen, die politisch die Linie der Partei «Für das Leben» vertreten haben. Die Partei «Für das Leben» gehört in derUkraine zur Opposition, sie ist im 450-köpfigen Parlament mit 44 Abgeordneten vertreten. Die englischsprachige Tageszeitung Kyiv Post[1] begrüßte die Schließung, da diese drei Sender russische Propaganda verbreitet hätten, wie sie schrieb. Immerhin publizierte sie auch kritische Stimmen[2].

Matthew Schaaf etwa, der Leiter des ukrainischen Büros von Freedom House, meinte: „Die Sperrung der ukrainischen TV-Kanäle durch Wolodymyr Selenskyj ist ein großer Schritt. Es ist schwer zu sehen, wie dies mit internationalen Meinungsfreiheit-Standards, denen die Ukraine zugestimmt hat, übereinstimmen könnte. Der Schlüssel zur Beurteilung, ob die Sanktionen gegen Viktor Medwedtschuks TV-Sender den Menschenrechten genügen, ist davon abhängig, wie sie begründet werden. Bisher ist die offizielle Rechtfertigung mager.“

Die USA haben diesen außerordentlichen Schritt des ukrainischen Präsidenten allerdings wenig überraschend ausdrücklich begrüßt. Die westlich orientierte Informations- (und Propaganda-) Plattform Radio Free Europe / Radio Liberty wusste dagegen zu berichten[3], dieser Schritt habe bei der EU in Bezug auf die Hochhaltung der Meinungsfreiheit und Medienvielfalt immerhin Stirnrunzeln verursacht.

Wie die ukrainische Medien-Szene im Alltag aussieht, hat mittlerweile sogar das Europäische Parlament erkannt. In seiner Resolution[4]  vom 11. Februar 2021 steht zu den ukrainischen Medien zum Beispiel unter Punkt 71: [Das EU-Parlament] „ist besorgt über das sich verschlechternde Arbeitsumfeld für Medienvertreter, wovon Investigativjournalisten betroffen sind, die über Korruptions- und Betrugsfälle berichten; [es] missbilligt Handlungen aller Art, die darauf abzielen, die Arbeit von Journalisten einzuschränken, wozu beispielsweise die Einschränkung des Zugangs zu Informationen, strafrechtliche Ermittlungen, Druck zur Preisgabe von Quellen und Hetze – insbesondere die Hetze gegen unabhängige Medien – zählen.“ 

Der Grund, warum Staatspräsident Selenskyj die drei TV-Kanäle geschlossen hat, ist unschwer zu erraten. Selenskyj wurde im Mai 2019 als Hoffnungsträger mit 73 Prozent der abgegebenen Stimmen zum neuen Staatspräsidenten gewählt und seine Partei «Diener der Nation» hat im 450-köpfigen Parlament 245 Abgeordnete, 19 über dem absoluten Mehr. Selenskyj hatte versprochen, als erste Priorität den kriegerischen Konflikt im Donbass zu beenden. Dieser dauert nun schon fast sieben Jahre, bereits länger als der Zweite Weltkrieg gedauert hatte. Wirklich getan in dieser Sache hat Selenskyj allerdings kaum etwas (*). Aber auch sonst geht es den Ukrainern seither nicht besser, sondern vielen sogar schlechter. Entsprechend ist die Enttäuschung in der Bevölkerung. Gemäß den Resultaten der beiden Kiever Umfrage-Institute hat Selenskyjs Partei jetzt Anfang 2021 landesweit nicht einmal mehr 19 Prozent Zustimmung und damit sogar weniger als die Russland-freundliche Oppositionspartei «Für das Leben», deren Fernsehkanäle er jetzt geschlossen hat. In einem echt demokratischen Staat würde das zu Neuwahlen führen, in der Ukraine wird einfach weitergewurstelt.

Die Ukraine ist jetzt ein NATO-Partner

Unter Punkt 20 derselben Resolution des Europäischen Parlamentes „würdigt“ dieses „den einzigartigen Erfahrungsschatz und Sachverstand der Ukraine, begrüßt die Teilnahme der Ukraine an Missionen, Gefechtsverbänden und Operationen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), ihre Beiträge zu EU-Gefechtsverbänden, ihre zunehmende Ausrichtung an den Feststellungen und Erklärungen der EU zu internationalen und regionalen Fragen sowie ihre Beiträge dazu und beglückwünscht die Ukraine zu ihrem neuen Status als Partnerstaat der NATO mit erweiterten Möglichkeiten.“ Womit einmal mehr klar zum Ausdruck kommt, dass es der EU nicht darum geht, der Ukraine wirtschaftlich auf die Beine zu helfen – die Ukraine mit ihren über 40 Millionen Einwohnern ist mittlerweile das ärmste Land Europas[5] –, sondern vor allem darum, militärisch Russland noch enger einzukreisen.

Ukrainisch und Englisch willkommen, Russisch verboten

Die konsequente Durchsetzung des neuen ukrainischen Sprachengesetzes wird immer absurder. Jetzt dürfen auch die Verkäuferinnen und Verkäufer in den Läden und das Servierpersonal in den Restaurants selbst in den traditionell russischsprachigen Regionen im Süden und Osten der Ukraine die Kunden nur noch in ukrainischer Sprache bedienen, es sei denn, der Kunde verlange ausdrücklich,
russisch sprechen zu dürfen. Eine clevere Methode, auch gleich feststellen zu können, wer immer noch an seiner russischen Muttersprache festhält und also zu wenig Kiev-untertänig ist. Umgekehrt wird in der Armee die englische Sprache intensiv gefördert. Jetzt wird auch bei den Armee-Veteranen die englische (NATO-bedingt die amerikanisch-englische) Sprache propagiert und gefördert. Auch hierzu hatte die Kyiv Post eine ans Herz gehende Geschichte[6]. – Aus Sicht der mehrsprachigen Schweiz ist dies zwar alles ein Lacher, aber für die betroffenen Leute die nackte Tortur. Die eigene Muttersprache nicht mehr sprechen dürfen, und das vom eigenen Land so verordnet? Wo sind da die Rechte der Minderheiten?

Neofaschismus ist nicht mehr nur eine Randerscheinung

In fast allen großen Städten der Welt gibt es Straßen, die den Namen anderer Städte tragen. In Paris etwa gibt es die «Rue de Milan», die «Rue de Londres», die «Rue de Constaninople» oder auch, man mag staunen, die «Rue de Saint-Pétersbourg» und die «Rue de Moscou». Auch in Kiev gab es die für die Stadt wichtige «Avenue Moskau». Diese aber wurde im Jahr 2016 umgetauft – ausgerechnet in «Avenue Stepan Bandera». Stepan Bandera war im Zweiten Weltkrieg ein Nazi-Kollaborateur und Judenschlächter, wird aber vor allem im Nordwesten der Ukraine als Held verehrt. Nun hat das Verwaltungsgericht des Distrikts Kiev diese Umbenennung für illegal erklärt, aber der Stadtrat hat bereits Appellation gegen dieses Urteil angekündigt. Am 1. Januar 2021 wurde auch in Kiev der 112. Geburtstag von Stepan Bandera gefeiert, wie jedes Jahr mit Fackelzügen und Transparenten. Die westlichen Länder aber wollen diese Bilder nicht sehen und schauen weg. 

Nicht wegschauen tun verständlicherweise jüdische Publikationen. Forward hat eine umfangreiche Recherche unternommen und musste feststellen: „You’ll be shocked“[7]. In vielen osteuropäischen und auch in den beiden nordamerikanischen Ländern USA und Kanada sind neue Monumente zu Ehren Stepan Banderas und anderer Nazi-Größen entstanden. Besonders auffallend ist der Trend gemäß Forward in der Ukraine. Da Selenskyj selbst Jude ist, gibt es mittlerweile auch Befürchtungen, dass nach ihm der Antisemitismus erst recht zunimmt.

Die Ukraine liegt geographisch zwischen den osteuropäischen Staaten der EU und Russland. Aber nur rund 24 Prozent seiner Landesgrenzen sind Grenzen zu den EU-Staaten Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien, die anderen 76 Prozent der Landesgrenzen sind Grenzen zu Russland, Weißrussland und Moldawien. Das Land wäre prädestiniert gewesen, als Brückenstaat zu funktionieren. Die EU hat die Ukraine aber schon vor 2014 vor das Ultimatum gestellt, sich zwischen Osten und Westen zu entscheiden. Der Entscheid fiel an der vom Westen unterstützten sogenannten «Revolution der Würde» auf dem Kiever Maidan, bei der es zum Putsch gegen den gewählten Präsidenten Wiktor Janukowytsch kam. Heute, bald sieben Jahre später, lebt das Land zu einem substanziellen Teil von jenen Ukrainern, die im Ausland leben und arbeiten und einen Teil ihres Lohnes als Rimessen in ihre Heimat zurückschicken

Eine traurige Geschichte.

Der Artikel erschien am 15. Februar 2021 auf der Webseite Infosperber.ch

Biden gibt im Fall Nawalny die Marschrichtung vor

Präsident Joe Biden gibt beim Fall Nawalny und bei der Konfrontation mit Russland und China die Marschrichtung vor.

Präsident Joe Biden am 4. Februar 2021 im US-Außenministerium (Foto US State Department / Flickr)

Ein Kommentar von von Stephan Ossenkopp

Im deutschen Bundestag brach am 10. Februar als Reaktion auf die Verhaftung des Aktivisten Alexej Nawalny mal wieder ein verbaler Sturm gegen Russland los. In einer auf Antrag der Fraktion der Partei Bündnis90/Die Grünen anberaumten „Aktuellen Stunde“ bezeichneten die Abgeordneten Sarrazin und Krischer (beide Bündnis 90/Die Grünen) Russland als „brutaler denn je“ und forderten einen Baustopp des Gas-Pipeline-Projekts „Nord Stream 2“, um Russland den finanziellen Boden zu entziehen. Alexander Graf Lambsdorff (FDP) warf Russland vor, es breche „die eigene Verfassung und internationales Recht“ und führe einen „Kalten Krieg gegen Europa und unsere Werteordnung“. Auch Michael Brandt (CDU) forderte ein Baumoratorium gegen das milliardenschwere Gasprojekt, das kurz vor der Fertigstellung steht, während die Abgeordneten Gauland (AfD) und Gysi (Linke) einen Stopp der Pipeline als kontraproduktiv bezeichneten. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Nils Schmidt, warnte sogar davor, Energie zum „Kampfmittel“ gegen Russland zu machen, verschloss sich aber nicht gegenüber der Möglichkeit neue, personenbezogene, Sanktionen auf den Weg zu bringen. Bundesaußenminister Heiko Maas wiederholte seine Forderung, Nawalny müsse sofort freigelassen werden. Die Außenminister der EU müssten am 22. Februar Sanktionen „an klare und umsetzbare Forderungen“ knüpfen.

Biden gibt den Ton an

Wäre solch ein Gepolter im Bundestag denkbar, wenn nicht in den USA die Marschrichtung längst vorgegeben worden wäre? Offenbar hat der Regierungswechsel in Washington für keinerlei Entspannung in der Causa Nawalny bzw. im Verhältnis der NATO-Mitgliedsländer mit der Russischen Föderation insgesamt bewirkt – im Gegenteil. Der amerikanische Präsident Joe Biden hielt am 4. Februar 2021 eine Rede im Hauptquartier des US-Außenministeriums in Washington D.C., die unter dem Titel „Amerikas Platz in der Welt“ als erste größere Darstellung der außenpolitischen Ausrichtung seiner Regierung galt. Darin sagte Biden unumwunden:

„Die politisch motivierte Inhaftierung von Alexej Nawalny und die russischen Bemühungen, die Meinungsfreiheit und die friedliche Versammlung zu unterdrücken, sind für uns und die internationale Gemeinschaft eine Angelegenheit von tiefer Sorge. Herr Nawalny hat, wie alle russischen Bürger, Anspruch auf seine Rechte gemäß der russischen Verfassung.  Er ist ins Visier genommen worden – ins Visier genommen, weil er die Korruption aufgedeckt hat.  Er sollte sofort und ohne Auflagen freigelassen werden.“ (Joe Biden)

Wer vom US-Präsidenten Töne des Interessensausgleichs zwischen den Supermächten USA, Russland – und China – erwartet hatte, wurde bitter enttäuscht bzw. musste endgültig einsehen, dass kurzfristige Wunschziele – nach dem Motto: Hauptsache Trump ist weg – nicht automatisch Unterschiede bei den strategischen und historischen Herausforderungen zur Folge haben. „Die amerikanische Führung muss dem fortschreitenden Autoritarismus begegnen, einschließlich den wachsenden Ambitionen Chinas, mit den Vereinigten Staaten zu rivalisieren, und der Entschlossenheit Russlands, unsere Demokratie zu beschädigen und zu stören“, hieß es da bereits beim Auftakt der Rede Bidens.

Zwar habe man sich mit Russland – in wortwörtlich letzter Sekunde – darauf geeinigt, den New-START-Vertrag, der als einziger noch verbliebener Vertrag zur Rüstungsbegrenzung die Reduzierung strategischer Offensivwaffen vorsieht, um fünf Jahre zu verlängern. Gleichzeitig aber seien die Tage vorbei, so Biden, „an denen die Vereinigten Staaten angesichts der aggressiven Handlungen Russlands – Einmischung in unsere Wahlen, Cyberangriffe, Vergiftung seiner Bürger – klein beigeben“ werde. Auch gegenüber China wirkte seine Rede nicht gerade zimperlich. „Wir werden Chinas wirtschaftliche Missbräuche konfrontieren; seinen aggressiven, zwanghaften Handlungen entgegentreten, Chinas Angriff auf die Menschenrechte, das geistige Eigentum und die Global Governance zurückdrängen“, sagte Biden in Anwesenheit seines Außenministers Antony Blinken, der diese harte geopolitische Linie ebenfalls vorbehaltlos unterstützt. Es droht also ein wahrhaft globaler Sturm.

Russland erwartet nichts anderes

Für Experten und Beobachter im Bereich internationaler Sicherheitspolitik sorgen solche Äußerungen selbstverständlich nicht für große Überraschung. So hatte der seit rund einem Jahr amtierende stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitri Medwedew, in einem Leitartikel bei der Agentur TASS schon vor Bidens Amtsantritt geschrieben: „Wir erwarten, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass die Vereinigten Staaten konsequent eine antirussische Politik verfolgen werden. In den letzten Jahren ging es mit den Beziehungen zwischen Washington und Moskau immer weiter bergab, egal wer im Weißen Haus am Ruder war.“ Joe Biden habe bisher nichts Positives über Russland gesagt. „Im Gegenteil“, so Medwedew, „seine Rhetorik war immer offen unfreundlich, harsch, sogar aggressiv. Er hat wiederholt erklärt, dass ‚Russland die größte Bedrohung für die Vereinigten Staaten ist […].“ Russland sei bereit, mit jedem US-Präsidenten zusammenzuarbeiten, hieß es weiter, doch die Beziehungen würden in den kommenden Jahren wahrscheinlich extrem kalt bleiben.

Mächtiger US-Senatsausschuss

Diese harsche Rhetorik war nicht zuletzt bei den Anhörungen[1] im mächtigen Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen spürbar, die aus Anlass der Bestätigung Außenminister Blinkens in seinem Posten abgehalten wurden. Die Mitglieder des Ausschusses, ganz gleich ob Demokraten (z.B. Menendez, Shaheen) oder Republikaner (z.B. Romney, Rubio), waren sich einig, dass Russland und China ganz oben auf die Agenda gehörten, was die Bedrohung der Welt anbelangt. Bei einem Presseauftritt[2] am 4. Februar gab der Ausschussvorsitzende Bob Menendez, der gerne „Demokratie-Aktivisten zur Seite“ steht, „die für die Reform von Regierungen von Kuba über China bis Russland kämpfen“, klar seine Linie zu erkennen: „Je früher wir Putin eine Botschaft senden, dass er die internationale Ordnung nicht ungestraft verletzen kann, desto besser wird es uns und der Welt gehen.“ Er prangerte unter anderem die Skripal-Affäre, den „Einmarsch in die Ukraine“, und die angebliche Einmischung Russlands in Wahlen an. Putin verstehe „nur Stärke“, und deshalb glaubt Menendez, „dass die Biden-Administration hoffentlich eher früher als später eine energische Antwort geben wird.“

Borrell in Moskau

Josep Borrell, hier bei einer Anhörung am 7. Oktober 2019 (Foto: European Parliament / Flickr)

Kurz danach gab der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Josep Borrell, ebenfalls eine Erklärung ab, und zwar unmittelbar nach der Rückkehr von seinem offiziellen Besuch am 4. und 6. Februar in Moskau. Über Borrells Rede wunderte man sich in Russland nicht wenig, da er davon sprach, dass bei seinem Treffen mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow „Menschenrechtsfragen, Grundfreiheiten und insbesondere der Fall von Alexey Nawalny sehr im Mittelpunkt“ gestanden hätten. „Die Diskussion mit meinem russischen Amtskollegen erreichte zeitweise ein hohes Maß an Spannung, da ich die sofortige und bedingungslose Freilassung von Herrn Nawalny sowie eine vollständige und unparteiische Untersuchung seines Attentatsversuchs forderte“, schrieb Borrell in seinem Blog.[3] Das russische Außenministerium zeigte sich überrascht über die Erklärung, da Borrell auf der Pressekonferenz in Moskau nach den Gesprächen mit Lawrow nichts davon erwähnte. Borrell hätte alle Möglichkeiten gehabt, eine solche persönliche Bewertung direkt abzugeben. „Niemand hat ihn eingeschränkt, weder in der Zeit noch im Format. Vielleicht hat der EU-Außenpolitikchef bei seiner Ankunft in Brüssel Anweisungen erhalten, welche Schwerpunkte er setzen soll, aber in diesem Fall beweist es nur, wer und wie die EU-Politik in Wirklichkeit gestaltet“, erklärte das Ministerium.[4]

Die Nawalny-Verschwörung

Die Russische Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa beschuldigt indes Polens EU-Mission in Brüssel, am 8. Februar ein Online-Treffen organisiert zu haben, bei dem zwei hochrangige Helfer Alexej Nawalnys, sowie Vertreter der EU, der USA, Großbritanniens, Kanadas und der Ukraine teilgenommen hätten. In einem Interview gegenüber Vesti FB Radio sagte Sacharowa, an dem Treffen, das von der ständigen Vertretung Polens bei der EU organisiert wurde, habe Leonid Wolkow und Wladimir Aschurkow, Top-Leute im Team Nawalny, zusammen mit Vertretern der oben genannten Länder teilgenommen. Sie hätten den „Oppositionsmitgliedern“, die in Wirklichkeit ihre Einflussagenten sind, Anweisungen erteilt, wie sie sich bei ihren zukünftigen subversiven Aktivitäten geschickter anstellen sollten. Sie schlussfolgerte: „Das ist es also, was unsere sogenannten westlichen Partner tun, um ihre absolut illegale, unrechtmäßige und aggressive Offensive gegen uns fortzusetzen.“ Es war Wladimir Aschurkow, der sich 2012 mit einem mutmaßlichen Agenten des britischen Geheimdienstes MI6 in der britischen Botschaft traf, um zweistellige Millionensummen zur Finanzierung genau dieser subversiven Aktivitäten zu erbitten. Dieses Treffen wurde kürzlich von der Agentur Russia Today veröffentlicht.[5] Die Sprecherin des Außenministeriums fügte hinzu, dass das Treffen der Nawalny-Agenten wahrscheinlich erklärt, warum sie ihre ursprüngliche Ankündigung vom 4. Februar, dass sie alle nicht genehmigten Kundgebungen bis zum Frühjahr aufschieben würden, zurückgenommen haben. „Der Westen hat zu viel Geld und Ressourcen in diese Sache investiert, um alles auf den Frühling zu verschieben“, erklärte Sacharowa. “ Deshalb sei man bereit, mit den neuen Aktionen bis zum Äußersten zu gehen.


[1] https://www.pbs.org/newshour/politics/watch-live-senate-committee-on-foreign-relations-holds-confirmation-hearing-for-antony-blinken

[2] https://www.foreign.senate.gov/press/chair/release/icymi-chairman-menendez-discusses-foreign-policy-news-of-the-day-on-msnbc-

[3] https://eeas.europa.eu/headquarters/headquarters-homepage/92722/my-visit-moscow-and-future-eu-russia-relations_en

[4] https://tass.com/politics/1253589

[5] https://www.rt.com/russia/514291-navalny-aide-funding-alleged-british-spy/

Sie sind eingeladen, Kommentare und Anregungen zu hinterlassen.

Alexander Rahr: Laschet soll schlecht über Russland reden

Welche Positionen vertritt Armin Laschet zu Russland? pragmatische und weniger ideologische.

Alexander Rahr

Zur Person: Alexander Rahr, Jahrgang 1959, ist Osteuropa-Historiker, Unternehmensberater, Politologe und Publizist. Er arbeitete u.a. als Analytiker für Radio Liberty, die Rand Corporation und für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) mit Arbeitsschwerpunkt Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien. Rahr saß von 2004 bis 2015 im Lenkungsausschuss des Petersburger Dialogs. Seit 2012 ist er Projektleiter des Deutsch-Russischen Forums. Er ist Mitglied des russischen Valdai Clubs und des ukrainischen Netzwerkes Yalta European Strategy (YES). Rahr ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und Ehrenprofessor der Moskauer Diplomatenschule und der Higher School of Economics in Moskau. 2019 erhielt Rahr den Freundschaftsorden der Russischen Föderation für sein Engagement für die deutsch-russischen Beziehungen.

Ein Kommentar von Prof. Alexander Rahr

Armin Laschet, der neugewählte Vorsitzende der CDU, steht plötzlich unter einem ganz besonderen Druck. Die Grünen-Chefin Annalena Baerbock hat ihn unmissverständlich dazu aufgerufen, seine „Russland-freundliche“ Position aufzugeben und sich dezidiert kritisch zu Russland zu äußern. Auch viele führende Mainstream-Medien schlagen in dieselbe Kerbe: Laschets fehlende Kritik an Russland sei verdächtig. Bald werden auch Politiker aus der eigenen Partei in die Reihen dieser „Inquisition“ gegen Laschet eintreten. Drohungen gegen Laschet, eine „Russland-Affäre“ gegen den CDU-Frontmann und Kanzlerkandidaten aus dem Nichts zu stampfen, liegen spürbar in der Luft. Laschet wird standhaft bleiben.

Die Frage nach dem Verständnis der Grünen zur Meinungsfreiheit und Toleranz soll hier nicht erläutert werden. Jeder Leser kann sich nach der Lektüre des Spiegel-Interviews von Baerbock seinen eigenen Reim darauf bilden. Interessant ist, wieviel Angst manche transatlantischen Kräfte in Deutschland verspüren, dass sich unter einem Merkel-Nachfolger die festgefahrenen Beziehungen mit Russland verbessern – zumindest normalisieren könnten. Dabei ist es im nationalen Interesse Deutschlands, auch im gesamteuropäischen Interesse, dass es zwischen dem Westen und Russland nicht zu einem neuen Kalten Krieg kommt, dass beide Seiten in eine Entspannungspolitik eintreten, bestehende Konflikte zu bewältigen suchen, statt sie weiter zu befördern. Bei aller Bündnistreue mit den USA – Deutschland darf sich nicht in den großen weltpolitischen Konflikten der USA mit China und Russland einseitig auf die amerikanische Seite ziehen lassen. Europa braucht einen eigenen Sicherheitsdialog mit konkurrierenden Mächten in der kommenden polyzentrischen Weltordnung.

Welche Positionen vertritt aber Laschet zu Russland? Antwort: pragmatische und weniger ideologische. Als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments vor zwanzig Jahren, empfand er viel Sympathie für das Konzept eines gemeinsamen Raumes von Lissabon bis Wladiwostok. Schon damals nahm er aktiv an Konferenzen mit Russen teil. Als Minister für Integration des Landes Nordrhein-Westphalen organisierte er einen wichtigen Dialog mit der russischen und türkischen Diaspora, zeigte aufrichtiges Verständnis für die Anliegen der Migranten, förderte so ihre Assimilation in Deutschland.

Laschet zeigte keine Scheu, nach Ausbruch des Ukraine-Konflikts zwischen Russland und dem Westen an Veranstaltungen wie dem Petersburger Dialog und der Jahresversammlung des Deutsch-Russischen Forums teilzunehmen. Als Ehrengast sprach er dort in einer wohltuend konstruktiven Sprache, ohne Russland-Bashing und ohne irgendwelcher Anbiederung gegenüber Russland. Laschet verteidigte den Bau der Nord Stream II, weil er sich als verantwortlicher Wirtschaftspolitiker nicht vorstellen kann, wie die deutsche Volkswirtschaft nach dem gleichzeitigen Ausstieg aus Kohle, Erdöl und Atomenergie ohne den Brückenfaktor Erdgas, bis zum Jahre 2050, wenn Deutschland vollkommen klimaneutral werden möchte, funktionieren kann.

Als Premierminister eines solch großen Bundeslandes wie Nordrhein-Westfalen trägt Laschet natürlich eine Verantwortung auch für die außenwirtschaftlichen Beziehungen. In seinem Bundesland sind zahlreiche Firmen mit langjährigen Russlandbeziehungen angesiedelt. Sie erwarten von der Landesregierung Unterstützung in schwierigen Zeiten und weniger Ideologie. Im Übrigen unterscheidet sich Laschet mit seinen Positionen hinsichtlich einer Interessen-bezogenen Partnerschaft zu Russland in keiner Weise von Markus Söder, der auf dieselbe Art und Weise den Handel zischen Bayern und Russland aufrechterhalten möchte.

Beide Politiker – Laschet und Söder – werden, sollte einer von ihnen Kanzler werden, einen pragmatischen Kurs Richtung Russland einschlagen, bei aller Kritik an Menschenrechtsverletzungen und Demokratieabbau in diesem Land. Was Laschet nicht tun wird, ist sich der von den USA geplanten „Allianz der Demokraten im Kampf gegen die Diktatoren dieser Welt“ anzuschließen. Wie ehrwürdig die Ziele dieser Allianz auch sein mögen – in einer Weltordnung, die sich von einer unipolaren pro-westlichen mehr und mehr zu einer polyzentrischen entwickelt, befördert eine strikt werteorientierte kämpferische Politik nur weitere gefährliche Konflikte.

Sollte Laschet Kanzler werden, wird er in einer ganz anderen Epoche regieren müssen, als Angela Merkel es 16 Jahre lang getan hat. Die Europäische Union und die transatlantischen Beziehungen stehen in manchen Fragen vor der Zerreißprobe. Die Herausforderungen für Deutschland und die EU aus dem Süden – gemeint ist der mögliche Zusammenbruch des Nahen und Mittleren Ostens – sind so gewaltig, dass sie ein ganz anderes Handeln der deutschen und europäischen Politik beanspruchen werden. Der Franzose Emmanuel Macron hat es längst verstanden; er und Laschet werden hier schnell eine gemeinsame europäische Antwort auf die Gefahren finden. Zu dieser Antwort wird auch ein neues strategisches Verhältnis zu Russland gehören.

Dieser Kommentar erschien ursprünglich am 20. Januar 2021 auf der Webseite www.russlandkontrovers.com und wird hier mit Genehmigung des Autors veröffentlicht.

Wird der US-Senat Putsch-Planerin Nuland im Amt bestätigen?

Victoria Nuland 2015 bei der Neocon-Denkfabrik Brookings Institution (Foto: Flickr)

Ein Kommentar von von Medea Benjamin, Nicolas J. S. Davies und Marcy Winograd.

Zu den Autoren: Medea Benjamin ist Mitbegründerin von CODEPINK for Peace und Autorin mehrerer Bücher, darunter Inside Iran: The Real History and Politics of the Islamic Republic of Iran. Nicolas J. S. Davies ist ein unabhängiger Journalist, und Autor von Blood On Our Hands: the American Invasion and Destruction of Iraq. Marcy Winograd von Progressive Democrats of America war 2020 Delegierte der Demokraten für Bernie Sanders.

Wer ist Victoria Nuland? Die meisten Amerikaner haben noch nie von ihr gehört, weil die außenpolitische Berichterstattung der US-Massenmedien extrem einseitig ist. Die meisten Amerikaner haben keine Ahnung, dass die von Präsident Biden ausgewählte stellvertretende Außenministerin für politische Angelegenheiten im Treibsand der Politik des Kalten Krieges der 1950er Jahre zwischen den USA und der Sowjetunion feststeckt und von einer fortgesetzten NATO-Erweiterung, einem ungehemmten Wettrüsten und einer weiteren Einkreisung Russlands träumt.

Sie wissen auch nicht, dass Nuland von 2003-2005, während der militärischen Besetzung des Iraks durch die USA, außenpolitische Beraterin von Dick Cheney war, dem Darth Vader der Bush-Regierung.

Sie können jedoch darauf wetten, dass die Menschen in der Ukraine von Neocon Nuland gehört haben. Viele haben sogar die durchgesickerte vierminütige Audioaufzeichnung mit ihrem „Fuck the EU“ während eines im Jahre 2014 geführten Telefonats mit dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt gehört.

Während dieses berüchtigten Anrufs, bei dem Nuland und Pyatt sich verschworen, den gewählten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zu stürzen, drückte Nuland ihre nicht sehr diplomatische Abscheu über die Europäische Union aus, die eher den ehemaligen Schwergewichtsboxer und Austeritäts-Champion Vitali Klitschko anstelle von US-Marionette und NATO-Steigbügelhalter Artseniy Yatseniuk bevorzugte, um den zu Russland-freundlichen Janukowitsch zu ersetzen.

Der „Fuck the EU“-Anruf verbreitete sich viral, während ein in Verlegenheit gebrachtes US-Außenministerium, das die Authentizität des Anrufs nie leugnete, die Russen für das Abhören des Telefons beschuldigten, so wie die NSA die Telefone der europäischen Verbündeten abgehört hat.

Trotz der Empörung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel feuerte niemand Nuland, dessen Lästerei jedoch die ernstere Geschichte verdrängte: die US-Verschwörung zum Sturz der gewählten ukrainischen Regierung und Amerikas Verantwortung für einen Bürgerkrieg, der mindestens 13.000 Menschen getötet und die Ukraine zum ärmsten Land in Europa gemacht hat.

Dabei gelang es Nuland, ihrem Ehemann Robert Kagan, der Mitbegründer des „Project for a New American Century“ gewesen ist, und ihren neokonservativen Kumpanen, die amerikanisch-russischen Beziehungen in eine gefährliche Abwärtsspirale zu befördern, von der sie sich bis heute nicht erholt haben.

Nuland schaffte dies von einer relativ untergeordneten Amtsposition aus, als stellvertretende Außenministerin für europäische und eurasische Angelegenheiten. Wie viel mehr Ärger könnte sie als die Nr. 3 in Bidens Außenministerium aufwirbeln? Wir werden es früh genug herausfinden, falls der Senat ihre Nominierung bestätigt.

Joe Biden sollte aus Obamas Fehlern gelernt haben, dass Ernennungen wie diese von Bedeutung sind. In seiner ersten Amtszeit ließ Obama zu, dass seine angriffslustige Außenministerin Hillary Clinton, der republikanische Verteidigungsminister Robert Gates sowie Militär- und CIA-Führer, die von der Bush-Regierung übernommen wurden, dafür sorgten, dass endlose Kriege seine Botschaft von Hoffnung und Wandel verdrängten.

Obama, der Friedensnobelpreisträger, hatte am Ende den Vorsitz über unbefristete Inhaftierungen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Guantanamo Bay; eine Eskalation der Drohnenangriffe, die unschuldige Zivilisten töteten; eine Vertiefung der Besetzung Afghanistans; einen sich selbst verstärkenden Kreislauf von Terrorismus und Terrorismusbekämpfung; und katastrophale neue Kriege in Libyen und Syrien.

Mit Clintons Ausscheiden und neuem Personal in den Spitzenpositionen seiner zweiten Amtszeit begann Obama, seine eigene Außenpolitik in die Hand zu nehmen. Er begann, direkt mit Russlands Präsident Putin zusammenzuarbeiten, um die Krisen in Syrien und anderen Krisenherden zu lösen. Putin trug dazu bei, eine Eskalation des Krieges in Syrien im September 2013 zu verhindern, indem er die Beseitigung und Zerstörung der syrischen Chemiewaffenbestände aushandelte, und half Obama bei der Aushandlung eines Interimsabkommens mit dem Iran, das zum Atomabkommen JCPOA führte.

Aber die Neocons waren apoplektisch, dass sie es nicht geschafft haben, Obama davon zu überzeugen, eine massive Bombenkampagne zu befehlen und seinen verdeckten Stellvertreterkrieg in Syrien zu eskalieren, und über die schwindende Aussicht auf einen Krieg mit dem Iran. Aus Angst, dass ihnen die Kontrolle über die US-Außenpolitik entgleitet, starteten die Neocons eine Kampagne, um Obama als „schwach“ in der Außenpolitik zu brandmarken und ihn an ihren mächtigen Einfluss zu erinnern.

Mit redaktioneller Hilfe von Nuland verfasste ihr Ehemann Robert Kagan 2014 einen Artikel in der New Republic mit dem Titel „Superpowers Don’t Get To Retire“ (Supermächte gehen nicht in den Ruhestand), in dem er verkündete, dass „es keine demokratische Supermacht gibt, die in den Startlöchern steht, um die Welt zu retten, wenn diese demokratische Supermacht strauchelt.“ Kagan forderte eine noch aggressivere Außenpolitik, um den Amerikanern die Angst vor einer multipolaren Welt auszutreiben, die sie nicht mehr dominieren können.

Obama lud Kagan zu einem privaten Mittagessen ins Weiße Haus ein, und die Drohgebärden der Neocons setzten ihn unter Druck, seine Diplomatie mit Russland zurückzuschrauben, während er in der Iran-Frage leise vorpreschte.

Der Gnadenstoß der Neocons gegen Obama war Nulands Coup 2014 in der schuldengeplagten Ukraine, einem strategischen Kandidaten für die NATO-Mitgliedschaft direkt an der Grenze zu Russland.

Als der ukrainische Premierminister Viktor Janukowitsch ein von den USA unterstütztes Handelsabkommen mit der Europäischen Union zugunsten eines 15 Milliarden Dollar schweren Rettungspakets aus Russland ablehnte, bekam das Außenministerium einen Wutanfall.

Eine herausgeforderte Supermacht ist fürchterlicher als die Hölle.

Das EU-Handelsabkommen sollte die ukrainische Wirtschaft für Importe aus der EU öffnen, aber ohne eine gegenseitige Öffnung der EU-Märkte für die Ukraine war es ein einseitiger Deal, den Janukowitsch nicht akzeptieren konnte. Der Deal wurde von der Regierung nach dem Putsch genehmigt und hat die wirtschaftlichen Probleme der Ukraine nur noch verschlimmert.

Der Muskel für Nulands 5-Milliarden-Dollar-Coup war Oleh Tjahnyboks neonazistische Svoboda-Partei und die nebulöse neue Miliz Rechter Sektor. Während ihres durchgesickerten Telefongesprächs bezog sich Nuland auf Tjahnybok als einen der „großen drei“ Oppositionsführer von der Außenseite, die dem von den USA unterstützten Premierminister Jazenjuk im Inneren helfen könnten. Dies ist derselbe Tjahnybok, der einst eine Rede hielt, in der er den Ukrainern für den Kampf gegen Juden und „anderen Abschaum“ während des Zweiten Weltkriegs applaudierte.

Nachdem sich die Proteste auf dem Kiewer Euromaidan-Platz im Februar 2014 in Kämpfe mit der Polizei verwandelt hatten, unterzeichneten Janukowitsch und die vom Westen unterstützte Opposition ein von Frankreich, Deutschland und Polen vermitteltes Abkommen zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit und zur Abhaltung von Neuwahlen bis Ende des Jahres.

Aber das war nicht gut genug für die Neonazis und die rechtsextremen Kräfte, die die USA zu entfesseln geholfen hatten. Ein gewalttätiger Mob, angeführt von der Miliz „Rechter Sektor“, marschierte auf und stürmte das Parlamentsgebäude, eine Szene, die sich Amerikaner nur schwer vorstellen können. Janukowitsch und seine Abgeordneten flohen um ihr Leben.

Angesichts des drohenden Verlusts seines wichtigsten strategischen Marinestützpunkts in Sewastopol auf der Krim akzeptierte Russland das überwältigende Ergebnis (eine 97%ige Mehrheit bei einer Wahlbeteiligung von 83%) eines Referendums, in dem die Krim dafür stimmte, die Ukraine zu verlassen und sich wieder Russland anzuschließen, zu dem sie von 1783 bis 1954 gehörte.

Die mehrheitlich russischsprachigen Provinzen Donezk und Luhansk in der Ostukraine erklärten einseitig ihre Unabhängigkeit von der Ukraine und lösten damit einen blutigen Bürgerkrieg zwischen von den USA und Russland unterstützten Kräften aus, der bis heute andauert.

Die amerikanisch-russischen Beziehungen haben sich nie erholt, auch wenn die Atomwaffenarsenale der USA und Russlands immer noch die größte Bedrohung für unsere Existenz darstellen. Was auch immer Amerikaner über den Bürgerkrieg in der Ukraine und Vorwürfe der russischen Einmischung in die 2016 US-Wahl glauben, wir dürfen nicht zulassen, dass die Neocons und der militärisch-industrielle Komplex, dem sie dienen, Biden von der Durchführung überlebenswichtiger Diplomatie mit Russland abhalten, die uns von dem selbstmörderischen Weg in Richtung Atomkrieg abbringen könnte.

Nuland und die Neocons setzen jedoch weiterhin auf einen immer gefährlicheren Kalten Krieg mit Russland und China, um eine militaristische Außenpolitik und Rekordbudgets für das Pentagon zu rechtfertigen. In einem Artikel in Foreign Affairs vom Juli 2020 mit dem Titel „Pinning Down Putin“ behauptete Nuland absurderweise, Russland stelle eine größere Bedrohung für „die liberale Welt“ dar als die UdSSR während des Kalten Krieges.

Nulands Erzählung beruht auf einem völlig mythischen, ahistorischen Narrativ von russischer Aggression und guten Absichten der USA. Sie gibt vor, dass Russlands Militärbudget, das ein Zehntel des amerikanischen beträgt, ein Beweis für „russische Konfrontation und Militarisierung“ sei, und fordert die USA und ihre Verbündeten auf, Russland entgegenzutreten, indem sie „robuste Verteidigungsbudgets beibehalten, die Modernisierung der Nuklearwaffensysteme der USA und ihrer Verbündeten fortsetzen und neue konventionelle Raketen und Raketenabwehrsysteme einsetzen, um sich gegen Russlands neue Waffensysteme zu schützen…“

Nuland will Russland auch mit einer aggressiven NATO konfrontieren. Seit ihrer Zeit als US-Botschafterin bei der NATO während der zweiten Amtszeit von Präsident George W. Bush ist sie eine Befürworterin der NATO-Erweiterung bis an die Grenze Russlands. Sie fordert „permanente Stützpunkte entlang der Ostgrenze der NATO“. Nuland sieht Russlands Verpflichtung, sich nach den aufeinanderfolgenden westlichen Invasionen des 20. Jahrhunderts zu verteidigen, als ein unerträgliches Hindernis für die expansionistischen Ambitionen der NATO.

Nulands militaristische Weltsicht repräsentiert genau die Torheit, die die USA seit den 1990er Jahren unter dem Einfluss der Neocons und der „liberalen Interventionisten“ verfolgen, was zu einem systematischen Mangel an Investitionen in das amerikanische Volk geführt hat, während die Spannungen mit Russland, China, Iran und anderen Ländern eskalierten.

Wie Obama zu spät gelernt hat, kann die falsche Person zur falschen Zeit am falschen Ort mit einem Stoß in die falsche Richtung jahrelange Gewalt, Chaos und internationale Zwietracht entfesseln. Victoria Nuland wäre eine tickende Zeitbombe in Bidens Außenministerium, die nur darauf wartet, seine Arbeit zu sabotieren, so wie sie Obamas Diplomatie in seiner zweiten Amtszeit unterminiert hat.

Der Artikel erschien am 16. Januar 2021 im englischen Original unter dem Titel „Will the US-Senate confirm coup plotter Nuland?“ auf der Webseite PopularResistance.org

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